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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


glaubt, oder er hält, wie jener Schulmeister, vor einer eingebildeten Versammlung Unterricht. Es ist auch vorgekommen, daß Nachtwandler ihre Feinde verfolgten, sie züchtigten und geschehene Unbill rächten. Hier begeht der Unglückliche allerdings leicht ein Verbrechen; das Gefühl der Rache wohnt in ihm auch im schlafwandlerischen Zustande, aber die wache und vernünftige Ueberlegung seiner Handlungen fehlt; er folgt einem instinctiven Triebe und vollbringt so eine blutige That, zu welcher es unter der Herrschaft der bewußten Intelligenz nicht gekommen wäre.

Soave erzählt von einem zweiundzwanzigjährigen Apothekergehülfen, welcher im Zustande des Nachtwandelns seine täglichen Arbeiten auch während der Nacht verrichtete; er bereitete Recepte, und waren diese unrichtig abgefaßt, so merkte er sofort die Fehler und weigerte sich die Arzneien zu machen. Er las in diesem Zustande viel, und hatte man vorher seine Buchzeichen entfernt oder an einen anderen Ort gethan, so blätterte er weiter, bis er die richtige Stelle auffand, dabei äußerte er sich einmal sehr ungeduldig darüber, daß Jemand ein Vergnügen daran finde, seine Buchzeichen wegzunehmen. Oft sprach er mit sich selbst über eben gelesene Stellen, besonders über Fragen, über die er mit seinem Herrn disputirt hatte. Wenn Soave, der ihn dabei beobachtete, ein Blatt Papier vor das Buch hielt, so wurden seine Gedanken plötzlich unterbrochen und er verfiel in tiefen Schlaf, aus welchem er jedoch bald wieder zum somnambulen Zustande erwachte. Die Apothekersfrau stellte sich einmal als seine Schwester und sprach als solche mit ihm; er merkte die Täuschung nicht; ein andermal kam sie als Magd, welche etwas kaufen wollte, von außen herein, suchte ihn bei der Bezahlung zu täuschen und behauptete ihm einen halben Scudo gegeben zu haben, während sie ihm in der That einen Lira gab; der Gehülfe aber merkte den Betrug und ließ sich nicht irre führen. Sein Arzt fragte ihn einst in diesem Zustande, ob er nicht wisse, daß er nachtwandele; daraufhin wurden seine Gedanken wieder verwirrt; er schlief ein, um bald darauf wieder zum Somnambulismus überzugehen.

Eines anderen Schlafwandlers, welcher ebenfalls im Traume seine täglichen Arbeiten fortsetzte, wird in der Encyclopédie méthodique gedacht; ein junger Geistlicher schrieb in diesem Zustande seine Predigten, las dann jede Seite laut herunter und corrigirte dabei an verschiedenen Stellen. Hielt man ihn vor sein Manuscript ein gleich großes Blatt weißes Papier, so schrieb er die Correcturen, ohne etwas zu merken, auf ganz dieselben Stellen, wo sie im Originale hätten stehen sollen. Der Inhalt seiner Arbeit stand ebenso, wie die räumlichen Verhältnisse der Zeilen und Wörter, deutlich vor seinem Gedächtnisse.

Von Heer erzählt von einem Manne, welcher schlafend Verse machte; er pflegte oft des Nachts in der Stube umherzugehen, wobei er sein Kind auf dem Arme trug; seine Frau begleitete ihn dabei und entlockte ihm bei dieser Gelegenheit alle seine Geheimnisse.

Der leichteste Grad des Somnambulismus macht sich durch unruhigen Schlaf, durch lautes Reden im Traume und durch Antworten auf gestellte Fragen bemerbar; hierher gehört ebenfalls das Fortmarschiren ermüdeter eingeschlafener Soldaten, sowie das fortgesetzte laute Lesen, während man bereits eingeschlummert ist. Dieser Zustand bildet den Uebergang vom gewöhnlichen Traum zum Nachtwandeln.

Am Anfang dieses Jahrhunderts lebte in Leipzig ein Mann, Namens Wagner; des Sonntags war er Organist an der Universitätskirche, und während der Werktage fungirte er als Bierwirth im „Pelikan“. Dieser Mann hatte die Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit einzuschlafen, aber dabei doch seine Arbeit, mit der er sich gerade beschäftigte, fortzusetzen. Er schlief beim Kartenspiele ein, aber jedesmal, wenn die Reihe an ihn kam, gab er seine Karte richtig aus. Desgleichen erwähnt Rudolphi eines Schustergesellen in Mailand, welcher träumend zu arbeiten pflegte; jedesmal, wenn man ihm etwas sagen wollte, mußte man ihn erst durch starkes Klopfen wecken.

In den höchsten Graden verläßt der Nachtwandler das Haus; er öffnet Thür und Fenster, geht hinaus in’s Freie oder Lustwandelt auf dem Dache. Dabei legt er die gefährlichsten Wege mit einer Sicherheit zurück, deren er im wachen Zustande nicht fähig gewesen wäre; es fehlt ihm eben die bewußte Ueberlegung seiner Handlungen die Gefahr, in welcher er schwebt, bleibt ihm verborgen, und so schreitet er am Tode sicher vorüber, ohne Schwindel, ohne Zaudern; er zweifelt nicht an der Möglichkeit seiner Unternehmungen, und „wer wagt, gewinnt“. Oft genug verunglückt ein Nachtwandler bei diesen gefährlichen Spaziergängen; wenn er dabei plötzlich erwacht und nun die Gefahr sieht, in welcher er schwebt, bemächtigt sich seiner die Furcht; die Kühnheit, welche ihn im bewußtlosen Zustande sicher vorwärts leitete, hat ihn verlassen und er kann oft ohne fremde Hülfe nicht mehr zurück. In anderen Fällen legt er, ohne zu erwachen, den Weg, den er gekommen, ebenso sicher wieder zurück, geht zu Bett und schläft ruhig weiter. Am andern Morgen weiß er von dem Vorgefallenen nichts mehr, und es fehlt sogar oft selbst jede Traumerinnerung.

Eine genügende Erklärung dieses räthselhaften Zustandes ist noch nicht gegeben worden; man nahm an, daß hierbei die gesammte Lebensthätigkeit auf das vegetative Nervensystem einwirke, und vermittelst der Centralorgane Nervenbewegungen bewirke. Diese Auslegung sagt im Ganzen nicht viel; sie würde höchstens die Bewegungen des Schlafwandlers, nicht aber die Zweckmäßigkeit und Sicherheit derselben erklären. Letzteres beruht auf Gewohnheit, denn Alles, was der Somnambule thut, ist die Fortsetzung seiner täglichen Verrichtungen; wenn er neue Arbeiten beginnt, so hatte er den Gedanken dazu im Wachen und bei klarem Bewußtsein erfaßt; er führt im Schlafe gewissermaßen nur die Pläne aus, welche er früher wachend entwarf.

Prophetische und magische Kräfte findet nur Derjenige bei einem Nachtwandler, welcher dieselben suchen und finden will; ein unbefangener und nüchterner Beobachter entdeckt auch bei einem Schlafwandler nichts Uebernatürliches, und nur der Mystiker greift zu magischen Kräften der menschlichen Natur, um eine ungewöhnliche, deshalb aber nicht unnatürliche Thatsache zu erklären.

Dr. W. C.






Aus den Werkstätten der Presse.

Wenn jetzt in einem Verzeichniß der unentbehrlichsten Lebensmittel civilisirter Völker auch die Zeitung einen hervorragenden Platz erhielte, so würde dagegen wohl kaum noch von irgend einer Seite her ernsthafter Widerspruch erhoben werden. Was die Zeitung im heutigen Culturgange der Menschheit geworden ist, was sie nach allen Richtungen hin für das Leben der Gesammtheiten und für das tägliche innere und äußere Bedürfniß des Einzelnen bedeutet, das wird jetzt von Unzähligen in allen Schichten des Volkes mehr oder minder deutlich gefühlt oder gewußt. Auch den Charakter und Standpunkt der verschiedenen Preßorgane des Inlandes und sogar des Auslandes, auch ihre Eigenschaften, die Art und Höhe ihrer Verbreitung und ihres Einflusses kennt man im Allgemeinen so weit, um die erforderliche Kritik üben und Stellung zu ihnen nehmen zu können. Während aber die öffentliche Meinung über alle diese Verhältnisse so ziemlich unterrichtet ist, herrscht doch noch eine merkwürdige und kaum begreifliche Unklarheit in Bezug auf einen wichtigen Punkt.

In weiten Kreisen selbst der gebildeteren Zeitungsleser weiß man nämlich so gut wie gar nichts von der täglichen Erzeugung der Zeitung, und nur Wenige legen sich die Frage vor: wie es überhaupt möglich gemacht wird, daß diese so riesigen und doch so eleganten, correct und sauber gedruckten Zeitungsproducte mit der ungeheuren Fülle ihres immer neuen, vielseitigen, wohlgeordneten, meistens auch wohldurchdachten und glänzend stylisirten Inhalts zweimal und vielfach sogar dreimal im Verlaufe von vierundzwanzig Stunden dem heißhungrigen Verlangen eines verwöhnten Publicums sich darbieten können? Wahrlich, ein Gebildeter des vorigen Jahrhunderts würde sich in eine Zauberwelt versetzt glauben, wenn er ein paar Tage hindurch nur dieses regelmäßige Ausschwärmen kolossaler Zeitungsauflagen und ihr massenhaftes und schnelles Hinausfliegen nach allen Himmelsgegenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_134.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2022)