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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Das Nachtwandeln.

Der Uebergang vom Wachen zum Schlafe ist kein plötzlicher; der Geist umschleiert sich, aber seine vollkommene Ruhe tritt nicht so bald ein; erst nach und nach werden die Wahrnehmungen unserer Sinne weniger empfunden, und nur bei dem festen, traumlosen Schlafe erlischt die Mittheilung der äußeren Sinnesorgane an die Seele vollständig. In diesem Zustande sind wir bewußtlos, und nur der Herzschlag und die Athmung verrathen das noch vorhandene Leben. Ist nun den ersten Forderungen der Natur, der absoluten Ruhe, Genüge gethan, so kommen wir allmählich wieder zu uns selbst; der Körper bleibt zwar noch leblos, aber der Geist wird wieder rege; die Sinne machen ihm auf’s Neue Mittheilung ihrer Empfindungen, und zuletzt werden wir in eine Welt der Phantasie versetzt – wir beginnen zu träumen. Wir befinden uns nun plötzlich in irgend einer Umgebung, in irgend welcher Situation, ohne uns aber einen Aufschluß geben zu können, wie wir da hinein gekommen sind; wir werden plötzlich aus der einen in eine andere Situation versetzt, ohne daß wir begreifen, wie, ohne logischen Zusammenhang; denn nur die Einbildung, die Phantasie ist im Traume thätig, nicht aber die Vernunft. Die Verhältnisse zwischen Raum und Zeit, zwischen Ursache und Wirkung werden dabei nicht berücksichtigt, und es herrscht nur der Zufall und das regellose, bunte Durcheinander. Zuweilen wird diese Zusammenhangs- und Regellosigkeit so auffallend, daß wir selbst im Traume wissen, daß wir nur träumen, und daß wir uns gleichsam als passive Beobachter von den Bildern unserer Phantasie trennen. Oft aber gestalten sich unsere Träume in sehr geregelten Formen; Dinge, welche uns während des Tages beschäftigten, sie treten dann auch des Nachts im Schlafe vor unser inneres Ich; wir arbeiten im Schlafe an der Lösung von Problemen, und nicht selten stellt sich träumend der Gedankengang in so logischer Weise dar, daß wir träumend das vollenden, woran wir im Wachen vergebens arbeiteten.

Wenn die wache Vorstellung erloschen ist, kann sich der Geist unumschränkt bewegen die vielen schwächenden und ablenkenden Momente, welche ihn im Wachen benachteiligten, haben nun aufgehört zu wirken; die Phantasie hat ein freies Feld gewonnen, und in diesem Zustande geschieht es, daß wir Gedichte machen, daß wir Lieder componiren, an deren Aufführung oder Vollendung wir im Wachen verzweifelten. Auf diese Weise beendete Farini seine „Teufels-Sonate“; umsonst bemühte er sich, die Arbeit zum Abschluß zu bringen, und schlief mit dem Gedanken an dieselbe ein. Da erscheint ihm im Traume der Teufel und verspricht ihm seine Sonate zu vollenden, wenn er ihm dafür seine Seele verschreibe. Farini geht auf den Vorschlag ein, und der Teufel trägt ihm nun das Ende seines Stückes in bezaubernder Weise auf der Violine vor; der Musiker erwacht und bringt die Melodien, welche er soeben träumend hörte, auf das Papier. Aehnliche Beispiele giebt es noch viele.

Die Lebhaftigkeit des Traumes kann sich sogar so steigern, daß der Schlafende sein Lager verläßt und die Arbeiten des wachen Lebens wieder aufnimmt. Das Gedächtniß, die Gewohnheit und die Einbildungskraft spielen auch hier, bei dem Somnambulismus, wie in jedem anderen Traume, die erste Rolle, und nur diesen drei Factoren allein ist die Sicherheit zuzuschreiben, mit welcher der Nachtwandler seine begonnenen Arbeiten fortsetzt, neue beginnt, oder sich auf seine nächtlichen Spaziergänge macht. Der ganze Unterschied zwischen dem Somnambulismus und denn einfachen Traume besteht nur darin, daß der Nachtwandler das, was er träumt, auch wirklich thut, während der gewöhnliche Träumer sich nur mit den Bildern seiner Phantasie abgiebt und sich in Situationen versetzt glaubt, in denen er sich in der That nicht befindet.

Die räthselhafte Erscheinnung des Nachtwandelns wird meistens in der späten Jugend beobachtet. Der Schläfer erhebt sich dabei gewöhnlich nach dem ersten festen Schlafe, kleidet sich an, macht Licht und beginnt auf’s Neue seine unterbrochenen Arbeiten; er geht ebenso sicher wieder auf sein Lager zurück und hat am nächsten Morgen beim Erwachen keine Erinnerung mehr an seine nächtlichen Erlebnisse. Solche Nachtwandler sind im Ganzen harmlos; sie schaden weder sich noch Anderen. Die Entschlüsse, welche sie im Wachen gefaßt hatten, die Gedanken, welche ihnen während ihrer Arbeit auftauchten, sie verfolgen sie auch im Traume, und die Eindrücke, welche sie wachend in ihre Erinnerung aufnehmen, wirken auch im bewußtlosen Zustande auf sie ein. Sie haben ihrer Einbildungskraft eine gewisse Spannkraft auferlegt, und die letztere kommt dann zur Geltung, wenn der freie Wille, vom Schlaf umfangen, nicht dagegen wirkt, und es folgt der Schlafende willenlos einem Antriebe, einem Vorsatze, den er bereits wachend faßte. Die Erinnerung an gewisse Dinge beschäftigt ihn auch im Traume und treibt ihn von seinem Lager auf; er beginnt im Wahne der Einbildung zu gehen und zu sprechen; er bedarf zu dieser Thätigkeit durchaus nicht der freien Vernunft und des freien Willens; Handlungen und Bewegungen, welche wir von Jugend an lernten, wie das Gehen und das Sprechen nahmen unsere Aufmerksamkeit nur während unserer ersten Versuche in Anspruch, als wir aber jene zusammengesetzten Bewegungen begriffen und gelernt hatten, geschahen dieselben auch ohne unseren vorgefaßten Willen. Die Vernunft und der Wille übergaben die Herrschaft über jene Thätigkeiten an gewisse Theile des Gehirns, an die sogenannten Coordinationscentren (wahrscheinlich im Kleingehirn und im verlängerten Mark gelegen) und diese überwachen nun jene combinirten Bewegungen und bringen sie zur Thätigkeit unter der Wirkung jedes Antriebes, auch eines solchen, welcher nicht von der freien Vernunft hergeleitet ist. Diese Antriebe können äußere Sinneseindrücke sein, sie können aber auch aus dem Gedächtniß und aus der Einbildung hervorgehen.

Selbst wachend verrichten wir oft ohne Bewußtsein Handlungen, an die wir gewöhnt sind; so lesen wir mechanisch in einem Buche weiter oder phantasiren auf dem Claviere ruhig fort, wenn auch unsere Aufmerksamkeit durch andere Dinge in Anspruch genommen wird. Wenn wir bei einem Schreck aufschreien oder die Flucht ergreifen, so geschieht dies ohne, oft sogar gegen unseren Willen. Dasselbe gilt auch vom Nachtwandler; auch er geht herum; er spricht und singt gleichsam gegen, wenigstens ohne seinen Willen. Die Vernunft ist vom Schlafe befangen, aber das Gedächtniß übernimmt hier die Rolle des freien Willens und läßt ihn im bewußtlosen Zustande sogar oft Dinge vollbringen, an deren Gelingen er im Wachen verzweifelte. Die Handlungen eines Schlafwandlers sind bewußtlos, aber durchaus logisch.

Man glaubt bemerkt zu haben, daß der Somnambulismus von gewissen Mondesphasen abhänge; dieser Annahme fehlt jedoch die Begründung. Es scheint, daß jede erhöhte Reizung der psychischen Sphäre, sei es durch anstrengendes Nachdenken, sei es durch Aerger oder dergleichen, den ersten Anstoß zum Nachtwandeln giebt. Dinge, die uns lebhaft interessiren, kommen sehr oft in unsere Träume, und ebenso verfolgen auch den Schlafwandler die Gedanken bis in den Schlaf, und sein Traum wird dann so lebhaft, daß er ihn auch in Wirklichkeit vollbringt. Der Nachtwandler steht dann unter der Leitung einer instinctiven Gewalt, einer unbewußten Intelligenz auf; er findet sich im Dunkeln so weit zurecht, als er mit den Räumlichkeiten, in denen er sich bewegt, vertraut ist; nur dem Ortssinn allein ist es zuzuschreiben, daß der Somnambule selbst mit geschlossenen Augen nirgends anstößt und allen Hindernissen aus dem Wege geht. Jedoch sind Täuschungen auch nicht selten; es ist vorgekommen, daß Nachtwandler das Fenster für die Thür hielten, und indem sie durch dasselbe in’s Freie treten wollten, auf die Straße fielen und verunglückten. Ein Anderer hielt das Fenstersims für ein Pferd, und indem er sich rittlings darauf setzte, machte er in seiner Einbildung einen Spazierritt.

Oft ist die Sinnesthätigkeit des Schlafwandlers ganz normal; er sieht die Leute seiner Umgebung; er spricht mit ihnen; er antwortet richtig auf Fragen; zuweilen musicirt er auch, und dieses Alles ohne Bewußtsein. In anderen Fällen ist er aber gegen die Außenwelt gleichsam abgestumpft. Er reagirt auf keine Sinneseindrücke, sondern beschäftigt sich nur mit den Bildern seiner Phantasie, er spricht mit Personen, welche er zu sehen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_133.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)