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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung und Schluß.)


Frau von der Wehr verließ das Zelt und ging mit raschen Schritten nach dem Hause. An der Thür blieb sie aber unschlüssig stehen, kehrte um und schritt im Garten auf und ab, den Kopf gesenkt und öfters die Hand auf’s Herz drückend. „Immer ihr – ihr – ihr Glück!“ grübelte sie in sich hinein, „und ich mag des Glückes darben. Was kommt darauf an, daß ich leide? Und doch – hat er Recht? Darf ich mein einziges Kind …? Ist das meine wahre Empfindung, was da der Schmerz im Augenblick aufwühlt und nach oben treibt? Wer kennt sich selbst? Was für unheimliche Gewalten da unten …“ Sie schüttelte sich wie im Fieberfrost. „Ich könnte mich hassen, daß ich so selbstisch bin. Nein! er kennt mich besser – in meiner Seele soll nicht die Finsterniß Macht haben über das Licht –: ich will ihr eine gute Mutter sein, nichts als eine gute Mutter. Glücklich machen heißt ja auch glücklich sein. O mein schwaches Herz – diesmal sollst du deine Kraft bewähren.“

Ihr bleiches Gesicht verklärte sich. So schön hatte noch keines Menschen Auge es gesehen. Sie trat in’s Haus und suchte Irmgard auf. Das arme Kind saß ganz verschüchtert in einer Ecke des hinteren Zimmers und zitterte am ganzen Leibe.

„Ich habe ihm ja gesagt, Mutter,“ rief sie der Eintretenden entgegen, „daß ich nicht die Seine werden kann. Es ist nicht meine Schuld, wenn er Dich um meine Hand gebeten.“

„Aber Du liebst ihn?“ fragte Frau von der Wehr freundlich.

Irmgard stand auf und glitt neben ihr zur Erde nieder. „Ich liebe ihn, Mutter, ich liebe ihn – lügen kann ich nicht. Und ich werde ihn lieben, so lange Gott mir das Leben schenkt und mein Herz schlägt. Aber ich weiß, daß ich nicht glücklicher sein darf, als Du bist. Bitte ihn, daß er uns verlasse und nie – nie mehr …“

Thränen erstickten ihre Stimme. Frau von der Wehr beugte sich zu ihr nieder, umfaßte sie und hob sie auf. „Das wolle der allgütige Gott nicht,“ sagte sie mild, „daß so aus Unheil weiter und weiter Unheil entstehe! Ich habe Dein Versprechen wohl gehört, aber nicht angenommen; wenn ich es nicht zurückwies, geschah’s, weil ich Dich beruhigen wollte. Wenn ich das Glück nicht gefunden habe, das ich suchte – kann es meiner Seele ein Trost sein, auch mein Kind unglücklich zu wissen? Gewinne ich, wenn Du verlierst? Nein! Du sollst ihn lieben, sollst ihm angehören. Es ist eine Fügung des Himmels, daß gerade sein – Max Werner’s Neffe, für den er sorgte wie für einen Sohn, dem Herzen meines Kindes über Alles theuer werden mußte. Wenn Du Dich mir verschuldet hast – wenn Deine Schuld eine Sühne fordert, so kann es keine geben, die mächtiger wäre zu lösen, als diesem mit Liebe heimzuzahlen, was Liebe schuldig blieb. Ich – ich – verzeihe Dir von ganzem Herzen.“

Irmgard umschlang sie mit beiden Armen und küßte ihr stürmisch Mund und Augen. „Du gute – gute – engelgute –“ wiederholte sie unaufhörlich. „Nun sind wir wirklich versöhnt. Aber darf ich denn Dein großmüthiges Geschenk annehmen? Nein, nein! Du kannst mir verzeihen, ich nicht. Es war ein Gelöbniß, das ich dem Himmel that. Wenn ich’s breche – wie sollte ich meiner Liebe jemals froh werden können? Ja, wenn ich Dir zurückgehen könnte –“

„Das ist verschmerzt. Dein Gewissen kann ganz ruhig sein. Gott weiß, wie zärtlich Du Deinem Vater anhingst –: seine Tochter konnte nicht anders empfinden. Gott weiß auch, daß Du ein Kind warst, dessen Herz nicht verstand, was die Lippen gelobten. Er hat keine Freude an unserer Selbstqual – er ist ein Gott der Liebe. Komm – Robert wartet auf uns. Kannst Du’s nicht überwinden, Dir ein solches Wort zu brechen, dann – liebst Du Robert nicht.“

„Ich liebe ihn, Mutter,“ rief Irmgard, umarmte sie von Neuem und drückte das Gesicht auf ihre Schulter.

Frau von der Wehr faltete die Hände über Irmgard’s Haupte und stand eine Weile in stillem Gebet. „Komm!“ sagte sie dann, „ich führe Dich zu ihm.“ Sie umfaßte sie und zog sie mit sich fort.

Irmgard trocknete ihre Thränen nicht. Als sie sich aber dem Zelt näherten und Robert vor ihnen stand, eine Frage an’s Schicksal in den Augen und auf den Lippen, da hörten diese Bäche zu rinnen auf und das heilige Feuer der Freude flammte aus den eben noch so bleichen Wangen. „Wir dürfen glücklich sein,“ rief sie und legte ihrer Mutter Hand in seine Hand. „Ihr – ihr haben wir’s zu danken.“ – –

Nur wenige Minuten hatten sie Zeit, Worte des innigsten Einverständnisses und Küsse zu tauschen. Der Landbriefträger öffnete die Thür des Staketenzaunes und schritt, aus seiner Tasche einen Brief heraussuchend, auf das Zelt zu. Frau von der Wehr saß am Eingange desselben. Er reichte ihr den Brief und entfernte sich. Robert und Irmgard achteten kaum darauf.

Sie sollten aber schnell aus ihrer zärtlichen Umarmung aufgeschreckt werden.

Frau von der Wehr hatte die Aufschrift des Briefes betrachtet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_127.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)