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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

wurden angestellt. Ein Theil der munteren Gesellschaft hatte sich zu Fuß nach der Försterei aufgemacht, und zuletzt blieb neben dem Architekten nur Irmgard zurück. Der Schaden am Rade war nicht zu curiren.

„Dann freilich wird auch uns nichts übrig bleiben, als den Weg zu Fuß zu machen,“ meinte Harder.

„Aber die Andern sind weit voraus,“ warf Irmgard ein.

„Wir müssen ihnen also folgen,“ entgegnete er.

„Allerdings…“ Sie zögerte unschlüssig. „Sollten wir nicht lieber – umkehren…?“

Er sah sie überrascht an. „Umkehren? Ah – Sie wollen nicht mit mir allein –“

„O, nicht das –!“ fiel sie rasch ein. „Aber das Wetter droht ernstlich…“ Sie erröthete, wie auf einer Lüge ertappt.

„Wie Sie wollen, mein Fräulein!“ sagte er, sich zurückwendend. „Es thut ja nichts, wenn man uns auslacht.“

Sie blieb stehen. „Wenn man uns … Sie haben Recht, man wird uns auslachen. Aber es ist ja nicht nöthig, daß Sie mich nach Hause begleiten.“

„Das wird mir jedenfalls ein größeres Vergnügen sein, als allein an dem Feste Theil zu nehmen.“

„So wollen wir doch lieber…“ Sie strich das Haar aus der Stirn und wandte das Gesicht gegen den Wind. „Gehen wir!“

Er ließ ihr nicht Zeit, wieder bedenklich zu werden. Hatte er’s auch nicht darauf abgesehen gehabt, mit ihr allein zu bleiben, so konnte ihm doch etwas Lieberes kaum passiren. Nun sie sich einmal entschlossen hatte, ihn zu begleiten, wich auch rasch jede Schüchternheit. – Der Himmel über ihnen war theilweise noch blau; die Gluth der Sonne, wenn sie durch eine Wolkenlücke brach, schien stechend. Die dunkle Barre über der See hatte sich gehoben und ihre zackigen Kuppen weit vorgestreckt. Die Wolken, die mit dem Winde jagten, kamen dahinter hervor und gingen darüber hinweg. Die langsam bewegliche Masse zeigte eine unheimlich gelbröthliche Färbung. Irmgard blickte nicht ohne Besorgniß darauf. „Wir werden hier unbarmherzig vom Winde zerzaust,“ sagte Harder; „und ich möchte darauf wetten, unten am Strande ist’s windstill.“

„Steigen wir also hinab!“ meinte Irmgard, die sich von Zeit zu Zeit zurückwenden mußte, um Athem zu schöpfen.

Sie bogen nach der Haide zu ein und fanden bald einen Fischersteg, der ohne große Beschwerlichkeit zum Seestrande hinableitete. Wirklich war hier unten der Luftzug viel schwächer. Nur mitunter stieß der Wind hinab oder um eine vorspringende Ecke und trieb ihnen den Sand in’s Gesicht. Wie schauerlich einsam war’s hier! Unwillkürlich beschleunigten sie ihre Schritte. Nur hin und wieder fiel ein ermuthigendes Wort.

Das sanftere Zackengewölk über der See hob sich nun plötzlich rascher. Das Meer schien weithin nur noch als ein weißes Schaumgewoge. Immer wüthender peitschten die Wellen den flachen Strand; jede folgende näßte ihn in weiterem Halbzirkel. Es war, als ob empörte Wassergeister unermüdlich das Land stürmten, um es in ihr nasses Reich hinabzuschlingen. Harder rief von Zeit zu Zeit ein lautes „Ho–a–ho!“ darüber hin, als wollte er zeigen, daß die menschliche Stimme noch Macht habe, dieses Getose der Elemente zu übertönen.

So waren sie, ohne im Sande rasch fortzukommen, etwa eine Stunde gegangen, als der Strand sich verengte. Man mußte um eine vortretende Spitze des hohen Ufers herum, von der ein Zug gewaltiger Steinblöcke sich weit in die See hinaus erstreckte. Hier war der Ansturm der Wellen besonders stark; sie suchten die festgelagerten Steine aus dem Sande herauszuwaschen, und der Gischt der Brandung spritzte darüber hin zur steilen Wand hinauf. Irmgard stutzte doch vor dem Uebergange. „Reichen Sie mir die Hand!“ bat der Architekt, „man muß von Stein zu Stein springen, damit man bald unter dieser Douche hinwegkommt.“

Sie zögerte.

„Fürchten Sie sich?“ fragte er. „Dann kehren wir um.“

Sie zwang sich. „Ich fürchte mich nicht,“ antwortete sie entschlossen. „Wo Sie gehen, gehe auch ich. Führen Sie mich!“

Sie hielt ihm nun die Hand hin und ließ sich auf ein Steingerölle hinaufziehen, von dem man dann in kürzeren und weiteren Sprüngen über naß glatte Blöcke und angespülte Baumwurzeln wieder den flachen Strand erreichte. Er war aber hier, und so weit sich aus der Entfernung erkennen ließ, bis zum nächsten Vorsprung hin, so schmal, daß die Wellen fast bis an die steile Uferhöhe spülten und nur einen Weg von wenigen Schritten Breite freiließen. Mitunter leckte eine Wasserzunge auch darüber hin und höhlte den Sand und Lehm am Anberge aus. Man mußte dann eine Secunde abwarten und beim Rückzuge schnell die gefährliche Stelle überspringen. „Wir hätten doch lieber umkehren sollen,“ verrieth Irmgard ihre Besorgniß. Sie schaute dabei ängstlich nach der Wolkenwand seitwärts, die immer höher stieg und jetzt zeitweise von Blitzen durchleuchtet wurde, während die Sonne sich ganz versteckt zu haben schien.

„Nun müssen wir weiter,“ entschied er. „Hinter jenem zweiten Vorsprunge öffnet sich bald die Wolfsschlucht, in der wir ja geborgen sind. Sie ist nicht gefährlich, wie die im ‚Freischütz‘.“ Ihre Hand hatte er nicht mehr losgelassen und zog sie nun rascher mit sich fort. Ihre Lage schien ihm vielleicht selbst kritisch zu werden.

Bald war es nicht mehr möglich, jeder voreilenden Welle auszuweichen. Sie mußten von Zeit zu Zeit eine Strecke am Ufer hinklettern, um nicht ganz durchnäßt zu werden.

Nun ließ sich auch ferner Donner vernehmen; das Gewitter zog schnell in die Höhe und näherte sich von Minute zu Minute. Auch im Westen und Osten wurde es hell. Wie sehr der Sturm an Heftigkeit wuchs, zeigten die mächtigen Bäume hoch oben an der Uferkante; sie schienen bei jedem neuen Stoße wurzellos werden zu müssen. Als die Beiden in die Nähe des zweiten Vorsprungs kamen, überzeugten sie sich sogleich, daß hier ein Uebergang ganz unmöglich zu finden sei. Welle folgte auf Welle in rasender Eile, und der Wind stieß so gewaltsam um die Ecke, daß man sich auf den nassen Steinen nicht halten konnte.

„Wir kommen hier nicht durch,“ sagte Harder, nachdem er einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, dicht am Ufer hin feste Stützen für den Fuß zu ermitteln; „drüben ist der Lehm völlig unterwaschen, weil der Wind von dort her kommt. Wir müssen nun doch zurück.“

Aber man kam nun auch in entgegengesetzter Richtung nicht mehr weit. Vor dem heraneilenden Gewitter her übte der Sturm einen solchen Druck auf das Wasser aus, daß jetzt der ganze schmale Strand in der Bucht überspült war und bei jedem Schritte die Gefahr größer wurde, fortgerissen zu werden. Das steile Ufer aber war nicht zu erklettern. Nun fielen auch dicke Tropfen aus dem tiefziehenden Gewölk nieder, den Platzregen ankündend, der in wenigen Secunden losbrechen mußte. Es war eine verzweifelte Aussicht, ihn ohne jeden Schutz hier im Freien abzuwarten.

Da entdeckte Harder’s scharfes Auge in einiger Entfernung, etwa in halber Höhe des Uferberges, eine dunkle Stelle, die eine Vertiefung sein mußte. Er zeigte mit der Hand darauf und rief:

„Dorthin, Irmgard! Wir müssen das Unwetter vorüberziehen lassen. Gestrenge Herren regieren nicht lange.“

Er begann sogleich zu klettern, wühlte mit dem Fuß den Sand fort, um an den schwierigsten Stellen Stufen herzustellen, zog sie an der Hand nach und erreichte glücklich mit ihr einen Vorsprung, der mit Strauchwerk bewachsen war und für den Nothfall sicheren Halt gewährte. Von dort ließ sich deutlich erkennen, daß jene Vertiefung von Menschenhänden aufgewühlt war. Wahrscheinlich hatten die Fischer Bernstein gewittert und, trotz der Wachsamkeit des Strandwächters, in der Nacht „rabuscht“. Der Zugang war nicht leicht, aber nach einigem Suchen wurde doch ein schmaler Pfad durch das Gebüsch dahin entdeckt. Sie fanden eine kleine, schräg abgesenkte Höhle, groß genug um ihnen ein schützendes Obdach zu gewähren.

Kaum waren sie eingetreten, als der Regen in Strömen losbrach und einige Minuten lang See und Himmel verschleierte.

„Gott sei Dank,“ athmete er erleichtert auf, „daß wir im Trocknen und so gut geborgen sind!“

Sie hielt zitternd seinen Arm fest und zuckte bei jedem Blitze zusammen. Es war plötzlich dunkel geworden, wie nach Sonnenuntergang.

Allmählich gewöhnte sie sich an das Schauerliche ihrer Lage und gewann so viel Muth, um sich in der Höhle umzusehen. Diese verengte sich bald bis zu einem breiten und niedrigen Loche von Spatentiefe; die blaue Erde war aufgewühlt und gegen den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_110.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)