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verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Ein aufgeschlagenes Buch lag neben ihm; er hatte wohl bis vor Kurzem darin gelesen. So ruhte er still in der vollen Stille des Abends, des Thales und des Waldes, der das Thal einschloß.

Vom Eingang des Thales her wurde der Trab von Pferden und das Rollen von Wagenrädern laut. Er horchte auf, nur einen Augenblick.

„Ah!“ sagte er. Er horchte weiter. „Ja, ja! Sie kommen schnell.“

Er nahm ein feines silbernes Glöckchen, das neben ihm auf dem Sopha lag, und ließ es leise ertönen. Ein alter Mann trat an seine Seite, sein Diener.

„Empfange die Herrschaft,“ sagte der alte Herr. „Führe sie –“ er stockte, sann einen Augenblick nach und fuhr dann fort: „Führe sie hierher, wenn sie zu mir kommen können! Sonst rufe mich!“

„Welche Herrschaft erwarten der Herr Doctor?“ fragte der Diener.

„Alter Thomas, Du wirst vergeßlich. Hörten wir nicht Beide die Schüsse da hinten? Die alte Margarethe, der in dieser Einsamkeit nichts entgeht, hatte uns zuerst darauf aufmerksam gemacht.“

„Der Herr Doctor meinen also –?“

„Ja!“

Der Diener ging. Der Doctor legte die Cigarre auf einen Tisch, der vor ihm stand, erhob sich, wie um besser horchen zu können, verließ aber schon in demselben Augenblicke sein Ruhebett, als ob er des Horchens nicht weiter bedürfe.

Da hielt ein Wagen an der Vorderseite des Hauses, und hastig und erschrocken erschien eine alte Dienerin aus der Veranda.

„Herr Doctor, die Herrschaft aus dem Schlosse!“ rief sie. „Der arme Herr – ach, ich weiß nicht, ob er noch lebt.“

„Leben wird er ja wohl noch,“ sagte der Doctor. „Einen Todten bringen sie mir nicht hierher.“

Der alte Diener kehrte mit einem trübseligen Gesicht zurück.

„Der Herr Doctor hatte Recht. Die Herrschaft kann nicht hierher kommen.“

„So gehen wir zu ihr.“

Der Doctor verließ die Veranda; Diener und Dienerin folgten ihm.

Doctor Fabricius war lange Jahre hindurch, seit Menschengedenken, ausübender Arzt in der benachbarten Kreisstadt gewesen und hatte den Ruf eines vorzüglichen Mediciners und wohlwollenden Menschen. Er war unverheirathet geblieben. „Ein Mann mit einem Höcker,“ pflegte er zusagen, „und eine Frau passen nicht zusammen; der Höcker auf dem Rücken könnte einen auf der Stirn nach sich ziehen.“ Er hatte sich trotz seiner Uneigennützigkeit ein beträchtliches Vermögen gesammelt, von dem er in seinen alten Tagen behaglich leben konnte. Für diese Tage hatte er in dem stillen, einsamen Thale einen weiten Platz angekauft; er ließ das freundliche Landhaus darauf bauen und es mit Gartenanlagen umgeben. Seiner Praxis entsagend, zog er dann sich hierher zurück, nur begleitet von den beiden alten Dienern, die über ein Menschenalter lang bei ihm gelebt hatten. Es war ihm ein Bedürfniß geworden, sich von der Welt zu trennen, aber er war kein Menschenhasser geworden. „Ich liebe die Menschen,“ sagte er oft, „und um mir diese Liebe zu bewahren, meide ich sie. Der Greis versteht die Jugend nicht mehr, nicht einmal das reife Mannesalter. Dem Manne gehört die Welt, obwohl die Jugend meint, daß sie ihr gehöre. Beide spotten über die Drohne, die nicht mehr schaffen kann, um nicht aus dem Korbe geworfen zu werden, verläßt sie ihn daher freiwillig. Das erhält die Liebe, die Freundschaft.“

Auf der Pfarre in Waltershausen und auf dem Schlosse Waltersburg war er während seines ganzen Aufenthaltes in der Kreisstadt ein treuer Hausarzt gewesen. Er blieb es auch jetzt, da sein Tusculum dem Schlosse und dem Dorfe noch einmal so nahe lag, wie die Kreisstadt. In beiden Häusern war er ein hochgeehrter Freund, dem kein Familiengeheimniß fremd war, der für Alle die innigste Theilnahme hatte.

Mit der Welt außerhalb seines Thales hatte er keinen Verkehr. Seine Besitzung lieferte ihm den größten Theil seiner Lebensbedürfnisse, und was etwa fehlte, kaufte der alte Diener monatlich einmal in der Stadt ein. Monatlich einmal brachte ihm dieser auch eine Zeitung der Provinz mit. Nicht einmal der Postbote kam in sein Haus; denn eine Correspondenz unterhielt er nicht. Die Nahrung, die sein Geist bedurfte, gewährte ihm, neben einer reichhaltigen Bibliothek, die Beobachtung des mannigfachen, stets wunderbare Lebens der Natur.

Der heutige Tag sollte den Doctor in die Wirren des Weltgetriebes zurückwerfen.

Vor wenigen Tagen hatte der alte Thomas bei seiner letzten Rückkehr aus der Stadt die Zeitungen mitgebracht und dazu allerlei Neuigkeiten, die in der Stadt das Tagesgespräch bildeten. Das Volk war fast überall in den deutschen Landen unruhig geworden und hatte sich gegen Verfassung und Regierung erhoben. In der Stadt waren schon Beispiele der Nachahmung erlebt worden, und die Besseren hatten mit Schrecken den nahenden Umwälzungen entgegengesehen. Der alte Thomas kam mit Jammer und Wehklage zurück; die alte Margarethe hörte es zitternd an, aber in dem Gesichte des Doctors verzog sich beim Anhören der Nachricht keine Miene. Er durchblätterte ruhig seine Zeitungen, und als er sich über die Sachlage näher unterrichtet hatte, sagte er zu dem alten Diener:

„Was wehklagst Du denn? Das Geschwür, das seine bösen Säfte nach innen abzulagern drohte, ergießt sich nach außen. Der Kranke ist gerettet, wenn – Doch das verstehst Du nicht.“

Bei sich selbst fuhr er fort: Die Katastrophe ist noch nicht da, erst die Krisis. Wohin wird sie führen? Bei jeder Action, auch bei denjenigen der Natur, hängt der Ausgang von der Reaction, vielmehr von den Reactionen ab. Halten sie Maß, so ist der Ausgang ein günstiger; es tritt ein normaler Zustand ein. Ueberschreiten sie aber das Maß, so wird der vorige Zustand zurückgerufen; er steigert sich, wird gefährlicher, zuletzt zerstörend. – Und hier? Es handelt sich um eine schwere Krankheit.

„He, Thomas,“ wandte er sich wieder zu seinem Diener. „Glaubst Du, daß der Aufruhr auch bis hierher in meine Besitzung, in mein stilles ‚Friedenthal‘, vordringen könnte?“

„Das wäre wohl unmöglich, Herr Doctor. Die ganze Gegend verehrt Sie ja, fühlt nur Dank für Sie.“

„Hm, Du gläubiger Thomas! In Zeiten, wie diese, werden die Bande der Verehrung und Dankbarkeit zu allererst zerrissen. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn – Hm, sprach man in der Stadt nicht von den Bauern in Waltershausen?“

„Herr!“ rief entrüstet der alte Diener. „Gegen wen sollten die denn revoltiren? Die Schloßherrschaft ist die beste von der Welt.“

„Eben darum, Thomas! Aber genug davon!“

„Ja, Herr, man soll den Teufel nicht an die Wand malen.“

„Den Tag aber auch nicht vor dem Abend loben.“

Der Doctor ging in sein Studirzimmer. – –

Zwei Tage waren seitdem in Ruhe vergangen. Am dritten Tage erschienen die beiden Dienstboten mit leichenblassen Gesichtern bei ihrem Herrn.

„Herr Doctor, Sie hatten Recht. In Waltershausen soll es noch heute losgehen.“

„So? Von wem habt Ihr Eure Nachrichten?“

„Der alte Invalide mit dem Stelzfuß ist da. Er fragt, ob er es Ihnen erzählen soll.“

„Ich danke ihm. Ich liebe diese alten Invaliden mit ihren Rathschlägen nicht.“

„Sie geben ihm doch monatlich seine zwei Thaler, Herr Doctor,“ warf die alte Margarethe ein.

„Ja, weil die Regierung ihm nur Einen Thaler giebt.“

„Sie haben also doch Mitleid mit dem armen Menschen.“

„Mitleid?“ sagte der Doctor wieder für sich. Mitleid? Mit dem armen Teufel wohl, aber nicht mit der Gattung von Menschen, welcher er angehört. Haben diese Burschen doch sich dazu hergegeben, Muth zu zeigen und sich zu Krüppeln schießen zu lassen für eine Sache, von der sie nichts verstehen, die sie oft nicht einmal kennen, die sie zumal in jenen Zeiten nicht kannten, als dieser alte Invalide noch jung war. Sie werden belohnt, bezahlt, mit den herkömmlichen Trompetenstößen, die ihre Thaten als Heldenthaten in die Welt hineinposaunen, und außerdem mit dem monatlichen Gnadenthaler. Und sie sind damit zufrieden und fristen ein trauriges Leben. Freilich, was haben sie mehr verdient, für all das Elend, für all den Jammer, den der Krieg, ihr Schlachten und Morden über das Land gebracht haben? Und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1878, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_106.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)