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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


werden, ohne daß die Thätigkeit des Ganzen nothleidet, gerade so wie auch bei einer Uhr nicht ein einzelner Theil entfernt oder verletzt werden kann, ohne daß der Gang der Uhr aufhört oder gestört wird. Unser Seelenwesen oder unser Ich-Bewußtsein ist also nicht theilbar wie ein Klumpen Blei oder Messing, den man in beliebig viele Stücke zerschneiden kann, ohne seine Eigenschaften zu zerstören oder zu ändern, sondern es ist theilbar wie ein feiner Mechanismus, den man nicht zerschneiden kann, ohne das kunstvolle Ineinandergreifen seiner einzelnen Theile unmöglich zu machen. Nichtsdestoweniger können, wie bekannt, in Folge von Gehirnverletzungen und dadurch erzeugter Mängel der Gehirnsubstanz einzelne Stücke der Seele oder der Erinnerung und des Gedächtnisses verloren gehen, ohne daß dadurch das Ganze als solches erheblich leidet, und der Anatom, welcher das bloßgelegte Gehirn eines Thieres schichtweise mit dem Messer abträgt, er theilt, trennt oder zerlegt gleichzeitig das seelische Wesen oder die seelischen Eigenschaften des Thieres je nach Art, Weise oder Tiefe seines Eingriffs. Aus allem diesem ist leicht ersichtlich, wie verwickelt und schwer zu durchschauen trotz aller Fortschritte der Wissenschaft immer noch die so überaus wichtige Seelenfrage ist, und wie dieselbe nicht durch allgemeine philosophische Betrachtungen, sondern nur auf dem mühsamen und langsam zum Ziele führenden Wege der Beobachtung, der Erfahrung, und der aus dem Boden der Thatsächlichkeit sich aufbauenden Schlüsse gelöst werden kann. Dasselbe gilt freilich von aller wahren und Wahrheit suchenden Wissenschaft und Philosophie überhaupt, welche letztere bisher mehr eine Gefühls-, als eine Verstandes-Philosophie war und mehr auf unbewiesenen Voraussetzungen als auf Thatsachen sich aufbaute. „Es wird nachgerade Zeit,“ sagt du Prel, „daß wir uns daran gewöhnen, der Natur in’s Antlitz zu schauen, statt uns ein idealisirtes Bild von ihr zu entwerfen, wobei unsere Wünsche den Pinsel führen.“





Auf Waltersburg.
Novelle von J. D. J. Temme.
(Fortsetzung.)

Johannes hatte die Zügel des Pferdes genommen und führte den Wagen den Weg entlang, der zwischen Kirche und Pfarre, vom Dorfe abwärts, lief. Neben dem Wagen ging Regine mit den beiden jüngeren Geschwistern, das Schwesterchen an der Hand, und hinter Allen schritt der Vater, auf Alle und auf Alles achtend. Zu ihm gesellte sich der Bauernadvocat.

„Ein schwerer Tag für Sie, Herr Pfarrer!“

Der Pfarrer achtete nicht auf ihn.

„Und ein saurer Weg, Herr Pfarrer!“ fuhr der häßliche Mensch fort. „Sie erlauben doch, daß ich Sie auf einige Schritte begleite?“

„Georg Hausmann,“ antwortete nun der Pfarrer ruhig, aber mit Bestimmtheit, „Euer Weg war immer ein anderer als der meinige. Laßt es auch heute so sein!“

Abermals lachte Georg Hausmann höhnisch.

„Hoho, Herr Pfarrer! Sie haben so Manchem dieser Gemeinde auf seinem letzten Wege das Geleite gegeben, da darf ich ja wohl auch Sie auf Ihrem letzten Gange aus der Pfarre eine Weile begleiten. Ich habe zudem noch ein paar Mittheilungen für Sie, auch für die Pfarrmamsell noch eine.“

Noch einmal suchte der Pfarrer sich des Menschen zu entledigen: „Ich bitte Euch aber, mich und meine Kinder allein unsern Weg machen zu lassen.“

„Die Landstraße ist frei, Herr Pfarrer, und sobald ich fertig bin, sollen Sie von mir befreit werden.“

Der Pfarrer schwieg.

„Herr Pfarrer,“ fragte zunächst der Bauernadvocat. „Sie dürfen mir doch sagen, wohin Sie sich zu wenden gedenken, wo Sie, wenn auch nur vorläufig, eine Zuflucht zu finden hoffen?“

„Wozu die Frage?“ wich der Pfarrer aus.

Georg Hausmann lachte.

„Zu Ihrem Besten, Herr Pfarrer! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Sie zu bekehren, der Bock den Hirten. Wenn Sie versprechen wollen, ein treuer Diener unserer Kirche, also auch der Gemeinde zu sein, so zweifle ich keinen Augenblick, daß diese Sie wieder aufnehmen wird. Geben Sie mir diese Erklärung um Ihrer Kinder willen! Besonders die Kleinen thun mir leid. Wohin wollen, wohin können Sie mit ihnen? Noth und Sorge ist jetzt überall im Lande, und Jeder hat mit sich selbst zu thun. Wohin Sie auch kommen – sollte man auch noch Ihre Noth und Sorge auf sich nehmen? Geben Sie mir die Erklärung, Herr Pfarrer! Ich lege sie noch heute der Gemeinde vor. Die Bauern halten auf Sie, und ich setze Ihre Zurückberufung durch. Sagen Sie mir, wo ich Sie treffe, und ich hole Sie morgen sicher zurück.“

„Georg Hausmann,“ erwiderte der Pfarrer ruhig und entschieden, „gebt Euch keine Mühe! Ich wies Euern Antrag schon einmal zurück, denn von meiner Pflicht kann ich mich nicht entfernen und die Achtung vor mir selbst werde ich mir stets bewahren. Verlaßt uns jetzt! Laßt uns in Frieden ziehen!“

Georg Hausmann gab nicht nach.

„O, Sie verlassen sich wohl darauf, daß wieder andere Zeiten in’s Land kommen werden?“ fragte er bitter; „die Hoffnung können Sie getrost aufgeben. Wir sind die Sieger überall, und in wenigen Tagen sind wir die Herren im ganzen Lande. In dieser Gegend sind wir es schon. Sie haben doch vorhin das Schießen gehört? Sie auch, Mamsellchen? Ach, ich hatte ja für Sie noch etwas Apartes. Sie wissen doch, daß der Freiherr Ottokar da oben eingetroffen ist, mit seinen Husaren?“

Regine erbebte.

„Ja, ja, mein Püppchen! Er ist da, zum Schutze seiner schönen Schwägerin. Sie hatte wohl lange schon Verlangen nach ihm gehabt, und er nach ihr. Da kamen die unruhigen Bauern ihnen Beiden gelegen. Und er hatte ja auch sogleich Gelegenheit, sich ihr als Held, als tapferer Ritter zu zeigen. Sie hörten doch das Schießen da oben? Ich war auch dabei. Unsere Bauern hielten sich brav. Schuß fiel auf Schuß. Die Kugeln flogen hin und her, und wenn auch nicht alle trafen, manche fand doch ihren Mann, und –“

Er brach plötzlich ab.

Der Weg, den sie verfolgten, zog sich durch eine kleine Waldung, und hier wartete ihrer unter den Bäumen eine Ueberraschung. Ein Haufen von Männern und Frauen hatte sich aufgestellt, sie zu empfangen. Es waren Bauersleute aus dem Dorfe, in denen der Pfarrer und seine Kinder den besseren, ruhigeren Theil der Gemeinde erkannten. Sie waren in ihrer Sonntagskleidung und erwarteten in feierlicher Stille die Pfarrersfamilie, um Abschied von ihr zu nehmen. Den Pfarrer ergriff eine tiefe Bewegung bei ihrem Anblicke. Georg Hausmann gerieth einen Augenblick in Verlegenheit, aber seine Frechheit siegte. Er hatte geschwankt, ob er umkehren solle, allein sein Trotz litt es nicht.

„Ah, mein Püppchen,“ unterbrach er sich, „die braven Leute bringen Ihnen ja im Voraus den Balsam auf die Wunde, die ich Ihnen schlagen muß. Gehen Sie zu ihnen! Ich warte hier.“ Er trat zurück.

Die Bauersleute schritten vor; an ihrer Spitze ein Greis, der älteste Mann der Gemeinde.

„Lieber Herr Pfarrer,“ begann er seine Ansprache, „wir sind die getreusten Mitglieder Ihrer Gemeinde. Wir haben Sie immer geliebt und verehrt; denn wir Alle sind Ihnen vielen Dank schuldig. Sie haben uns und unsern Kindern stets das Wort Gottes rein und lauter gelehrt. Sie haben uns getröstet in Drangsal, uns aufgerichtet, wenn schwere Zeit an uns herantrat, uns beigestanden wenn wir in Nöthen waren; darum mußten wir unsern Dank Ihnen darbringen, aber im Dorfe, in der Pfarre konnten wir es nicht; denn die Schlechtigkeit, die jetzt dort die Oberhand hat, hätte es uns verwehrt. Da versammelten wir uns hier, und, lieber, verehrter Herr Pfarrer, nehmen Sie unsern Dank freundlich an und die geringen Gaben, die er Ihnen darbringt! Sie kommen aus gutem Herzen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_104.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2022)