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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Unruhe und Hader herrschten dort überall, nur an einer Stelle nicht, und doch wieder auch dort.

Die Kirche des Dorfes und der Kirchhof, der sie umgab, sie lagen beide so still und ruhig da, jene, als ob der Friede, den sonntäglich der würdige Pfarrer von ihrer Kanzel verkündete, seine unangreifbare Stätte dort aufgeschlagen habe; der Kirchhof – auf ihm ruhten ja Tausende in dem ewigen Gottesfrieden. Und Friede war auch in dem Pfarrhause, das durch den Kirchhof von der Kirche getrennt wurde. Aber in einem Herzen wohnte er hier nicht.

Vor der Thür des Hauses hielt ein mit einem Pferde bespannter Ackerwagen der mit Hausrath, Koffern und Kleidungsstücken stark beladen war. Bei dem Pferde, einem tüchtigen Braunen, stand ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, ein prächtiger Bube, kräftig, frisch, mit intelligentem Gesicht. Es war Johannes, der älteste Sohn des Pfarrers; mit Gottes Hülfe – so hatte man gemeint und oft gesagt – sollte er der Nachfolger des Vaters in der Pfarre werden. Jetzt stand er wartend an dem Ackerwagen, auf den die Habseligkeiten der Familie geladen waren, und in der nächsten Minute mußte die Pfarre geräumt sein. „Für immer!“ war ihnen angedroht worden. Ein leiser Trotz wollte sich wohl in das frische Gesicht des Knaben drängen, aber sein frommes Gemüth wies ihn zurück – er wartete mit Ruhe und Ergebung auf den Vater und die Geschwister. In das Unvermeidliche müsse man sich sagen, sagte ihm sein Verstand; gegen die Fügungen Gottes dürfe der Mensch nicht murren, sich nicht auflehnen, sagte ihm sein gottesfürchtiges und auf Gott vertrauendes Herz.

Zu dem Wartenden trat aus dem Hause die ältere Schwester. Ihr Gesicht war bleich, ihre Gestalt gebeugt, aber sie war auch jetzt schön, wie immer, und daß ihr Muth ungebeugt war, zeigte die Sicherheit, die über ihrer ganzen Erscheinung ausgebreitet lag.

„Liegt Alles ordentlich und fest?“ fragte sie den Bruder, die Ladung des Wagens musternd. Sie fragte es, wie eine sorgsame Hausfrau, und ihre Stimme war klar und ruhig.

„Der Vater packte es ja zusammen,“ antwortete der Bruder.

„Wir können also abfahren?“ fragte sie weiter.

„Wenn wir müssen!“ antwortete Johannes, und der Schmerz ließ in diesem Augenblicke doch einen gewissen Trotz durchscheinen, dessen er sich nicht erwehren konnte.

„Wir müssen, Johannes.“

„Auf dem Schlosse erwarten sie Hülfe, den Rittmeister mit seinen Husaren,“ redete er darein.

„Zu einem blutigen Kampfe, Johannes! Von ihnen mag ihre Stellung, ihre Ehre ihn fordern. Unser Vater, ein Diener Gottes, der den Menschen den Frieden verkündet, darf um seinetwillen kein Blut vergießen lassen.“

„Wenn nun dieser freche Aufstand am Schlosse niedergeworfen würde,“ wendete der Knabe ein, „wenn die Bauern zurückgetrieben, ihre Rädelsführer gefangen genommen und nach Recht und Ordnung sofort standrechtlich erschossen würden? Der ganze Aufstand wäre damit unterdrückt, kein Bauer würde sich mehr aus dem Hause wagen und um uns würde Niemand sich fortan kümmern.“

Regine Reif wankte einen Augenblick in ihrem Entschlusse.

„Mag der Vater entscheiden!“ sagte sie dann.

Da tönten die Schüsse herüber, die am Schlosse fielen.

„Horch!“ rief Johannes, und die helle Röthe, die durch sein Gesicht flog, bezeugte den Muth und die Hoffnung seines Innern.

„Die Unglücklichen!“ preßte Regine aus der geängstigten Brust hervor, und indem sie aufhorchte, wurde sie noch bleicher als zuvor. In diesem Augenblicke trat der Pfarrer tief bekümmert aus dem Hause.

„Ich hörte schießen,“ sagte er, wie fragend, ob er richtig gehört habe.

„Am Schlosse,“ antwortete Johannes.

Alle schwiegen dann, sie standen horchend, was sich weiter begeben werde. Noch einmal fielen Schüsse, wieder am Schlosse und wie es schien an derselben Stelle, an der die früheren gefallen waren. Neue folgten, es wurde gekämpft.

„Vater!“ rief Johannes mit leuchtenden Augen.

„Was willst Du mir sagen?“ fragte der Pfarrer.

„Vater, wenn die aufrührerischen Bauern niedergeworfen würden!“

„Dann, mein Sohn?“

„Blieben wir in der Pfarre.“

„Wir wollten also das Ende eines blutigen Kampfes abwarten, auf das Morden von Menschen unsere Hoffnungen setzen und durch unser Bleiben gar neuen Mord hervorrufen?“

Der Sohn schwieg.

„Treten wir unsern Weg an!“ sagte der Pfarrer entschieden, und seine Stimme verrieth, wie schwer der Entschluß ihm geworden.

„Gehet jetzt in das Haus!“ fuhr er dann fort. „Nehmt Abschied von der Stätte, wo wir so lange geweilt, und holt Eure jüngeren Geschwister!“

Bruder und Schwester gingen in das Haus, und der Pfarrer blieb allein am Wagen. Er hatte schon Abschieb genommen von dem Innern des Hauses, von dem Garten, von allen den Stellen und Plätzen, an denen er ein Vierteljahrhundert lang gearbeitet und gewirkt hatte, an denen Freude und Leid ihm zu Theil geworden. Es war ihm schwer geworden, und der Schmerz hatte wohl manchmal den kräftigen, von dem edelsten Gottvertrauen getragenen Mann überwältigen wollen. Er hatte zu widerstehen vermocht, sein Auge war trocken, sein Muth war kräftig geblieben. Jetzt überschaute er noch einmal das Haus, den Garten, die Umgebung, die ganze Landschaft, die Fluren der weiten Gemarkung, die Wälder, das Schloß da oben, die Häuser des Dorfes, die Kirche und den Kirchhof. Alles, Alles mußte er verlassen. Für immer? Wilde Bewegungen zogen durch das Land, aber wilde Wogen verlaufen ja, und der Strom fließt wieder langsam und ruhig. Können seine Wellen zurückkehren? Kann er selbst es? Es wäre gegen die Gesetze der Natur. Hin ist hin; verloren ist verloren. Und doch ist auch das Hoffen ein Naturgesetz für das Leben eines Menschen. – Wie viele Gedanken zogen durch die Brust des schwer geprüften Mannes! Wie manche Hoffnung zog vorüber! Wie mancher Seufzer folgte ihr auf dem Fuße. Es ist ja nur Täuschung, leere Selbsttäuschung. Aber der Pfarrer verzagte nicht.

„Herr, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden!“

Die Kinder kehrten aus dem Hause zurück. Regine ging voraus, das dreijährige Schwesterchen an der Hand, und die beiden Knaben folgten. Jedes von ihnen trug sein Handgepäck; auch das Schwesterchen hatte einen kleinen Korb an den Arm gehängt. Sie traten still an den Wagen, zum Vater. Reginens blasses Gesicht hatte den bewährten Muth nicht verloren. Johannes aber sah die ruhige Milde in den Zügen des Vaters, und aus seinem Gesichte entwich der Trotz, der von Neuem hatte auftauchen wollen. Der zweite Knabe hatte noch Thränen in den Augen: er schämte sich ihrer und trocknete sie heimlich, als der Blick des Vaters ihn suchte.

Diese Wehmuth kam über den Pfarrer, als er alle die lieben, schönen Gesichter seiner Kinder sah. In Gesundheit hatte der Himmel sie ihm erhalten, sie aufblühen und sich entwickeln lassen. Welcher Zukunft kannte er sie entgegenführen? Wußte er nur, wo er, wo sie in der nächsten Nacht ihre Häupter niederlegen sollten?

„Zu der Mutter jetzt!“ sagte er.

Sie gingen auf den Kirchhof, an manchem Grabe vorbei. An einem der Grabhügel in der Nähe der Kirche aber machten sie Halt. Epheu faßte ihn ein; Blumen des Frühlings schmückten ihn, und ein grauer Sandstein erhob sich auf ihm. Die früh verstorbene Gattin des Pfarrers, die Mutter seiner Kinder, schlief hier den ewigen Schlaf. Neben dem Hügel war eine leere Grabstelle. Der Pfarrer hatte sie für sich bestimmt. Wer sollte sie nun künftig einehmen?

„Bringen wir der Mutter unsere Abschiedsgrüße!“ sagte der Vater zu seinen Kindern. Nur Grüße hatten sie ja zu bringen, keine Blumen, keinen grünen Zweig. Nichts hatten sie mitzunehmen, was zur Pfarre gehört. Der Bauernadvocat hatte es ja anbefohlen. Sie umgaben schweigend das Grab, schauten zu der Erde nieder, in der die Mutter ruhte, sandten ihr stille Grüße und weihten die Grüße durch ihre Thränen. Sie standen lange, lange so – es war ja der letzte Abschied von der Heimath.

„Gehen wir!“ sagte endlich der Vater.

Sie verließen den Kirchhof, still, wie sie ihn betreten hatten, und kehrten dann zur Pfarre zurück. Schwere Augenblicke warteten hier noch ihrer. Sie hatten den Wagen ohne Aufsicht vor dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_088.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)