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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


reizen wollte. Stand er doch an den Stufen des Thrones – eine landläufige Phrase, die hier zur prägnantesten, inhaltsschwersten Wahrheit und Wirklichkeit ward in des Wortes verwegenster Bedeutung. An den Stufen des Thrones stand er im Vollbewußtsein der auf ihm lastenden Aufgabe, mit klarem Blicke die verhängnißvolle Situation überschauend. Doch wird das dem Vaterlande in einem schrecklichen Momente dargebrachte Opfer nicht vergebens gebracht sein? Wird die kleine ihm untergebene Schaar sein Beispiel zum Muster nehmen, sie, die ohne umfassenden Ueberblick über die furchtbar nahe Katastrophe nur dem natürlichen Instincte, dem von den Umständen ausgehenden Anstoße zu folgen bereit, nur allzu bereit erscheint? – Und näher, immer näher rückt der entscheidende Augenblick.

Mit Schimpf- und Schmähreden der rohesten Art, mit pantomimischen und handgreiflichen Insulten wird der Soldat überschüttet, gehöhnt und gereizt. Ein Kerl mit einer Drehorgel, confiscirten Gesichts, zerlumpter Kleidung und zerlappter Befilzung, pflanzt sich dicht vor den Lieutenant und intonirt mit kläglichem Gezeter: „Ach, du lieber Augustin – Alles ist weg – Alles ist weg.“ Dem stürmischen Ausbruch höllischen Gejodels und Gejubels folgen minder harmlose Herausforderungen: „Haut ihnen die Helme herunter! Hinaus mit den Tagedieben! Nieder mit den Mordgesellen!“ Und den Drohungen folgt endlich die That. Ein Mensch von athletischem Körperbau, mit rußigem Antlitz und blutender Armwunde, seines Zeichens ein Schlosser oder Schmied, springt aus dem immer enger, immer unentwirrbarer sich schürzenden Knäuel hervor und führt mit hochgeschwungener Eisenstange einen gewaltigen Schlag auf den Helm eines Grenadiers. Der Getroffene wankt, hält sich aber mannhaft aufrecht. Die Gewehrkolben rasseln auf den steinernen Quadern; ein unheilschweres Gemurmel pflanzt sich fort durch die Reihen der Soldaten – doch ein Blick auf den Officier, und vor eiserner Disciplin sich beugend, steht Gewehr bei Fuß, straff und stramm und lautlos die Schaar. Von diesem passiven, jedenfalls als Furcht gedeuteten Widerstande mehr und mehr zu Uebermuth, zu frecher Gewaltthat aufgestachelt, schreitet die hier ganz sich selber überlassene, jeder verständigen und humanen Führung entbehrende Pöbelrotte zu gemeinsamem Angriff. Doch nicht von den Waffen macht sie Gebrauch, die vielgestaltig in Aller Händen blitzen; es waltet doch ein dumpfes Gefühl in diesen Menschen von der ehrlosen That, nach Schluß des Friedens mit ungeheurer Uebermacht den ruhig dastehenden Gegner vergewaltigen zu wollen. Aber zu derjenigen Waffe greifen sie, die der Straßenbube zur Hand nimmt, um sich in Verlegenheiten Luft zu machen: Ein Hagel von Steinen, nicht gerade großen Calibers, prasselt auf die Soldaten. Er richtet nicht viel Unheil an. Doch ein gewaltiger Prellstein rollt über den Estrich und trifft und zerquetscht den Fuß des Officiers. Von grimmem Schmerze übermannt, taumelt er zurück; einer Ohnmacht nahe – die Natur ist stärker, als der heroische Wille – lehnt er sich, der Stütze bedürftig, an eine Sandsteinsäule, um nicht haltungslos zusammenzubrechen. Und die Grenadiere? Helllodernder Zorn zerbricht den Hemmschuh militärischen Ordreabwartens; ohne Commando, doch wie auf Commando avanciren, ihren Führer deckend, die Reihen. Es erheben sich die Flinten, es knacken die Hähnen an die Schulter fliegen die Kolben – noch ein Augenblick, und im Innern des Schlosses, an den Stufen des Thrones entzündet sich die wilde Gluth des gräßlichen Kampfes, dessen Ausgang kaum zweifelhaft war, dessen Folgen für Preußens Geschicke unübersehbar sein mußten.

Da – in dem Moment der höchsten, der äußersten Noth löste ein glücklicher Zufall friedlich den auf die Spitze getriebenen Conflict. Mit raschem, dröhnendem Schritte naht von der Kurfürstenbrücke her eine zahlreiche Colonne neu bewaffneter Bürger, schwenkt in das Portal und schiebt sich wie ein Keil zwischen die kampfbereiten Parteien. Es war dies die erste That der Berliner Bürgerwehr; der bürgerliche Liberalismus trat auf den Schauplatz und bewährte seinen unbeugsamen Ordnungs- und Edelsinn. Fast gleichzeitig mit diesen Rettern traf die Ordre ein zum Abzuge „der Letzten vom Regiment“. Die Geschichte jener Tage blieb mithin davor bewahrt, mit blutigem Griffel auch den Morgen des 19. März in ihren Annalen zu verzeichnen.

Mit dem Scheiden dieser „Letzten vom Regiment“ schloß sich das Grab über der alten Zeit; die Aera thatkräftigen Ringens, freier staatlicher Entwickelung begann. Mit neu erstarktem Selbstgefühl, mit stolzfreudigem Blicke in eine sonnenhelle Zukunft schaart sich, wachhaltend, um die Stufen des Thrones – die erste Bürgerwehr.

Moritz Bonmot.



Die Mechanik des Tischrückens.

Es war gegen Ende vorigen Jahres, als mein Töchterchen ganz erregt aus der Schule zurückkehrte und ausrief: „Papa, der Tafelständer in unserer Schule läuft im Zimmer umher und sogar sammt der darauf gestellten Tafel, wenn man ihn nur mit den Fingern berührt.“

Ich lächelte zuerst ungläubig über diese Mittheilung, ließ mich aber doch bestimmen, die Sache selbst anzusehen, und siehe da, es verhielt sich in der That so, wie mir erzählt worden war. Der betreffende Wandschultafelständer bestand in einem gewöhnlichen staffeleiartigen Gestell aus weichem Holze, circa zwei Meter lang und ein Meter breit und hatte nach rückwärts keinen dritten Fuß, weil das Gestell nur dazu diente, mittelst desselben die große Schultafel an die Wand anzulehnen. Wie mir mitgetheilt wurde, hatte eine Schülerin den leeren Ständer von der Wand weggerückt, als sich derselbe unter der Berührung plötzlich in Bewegung setzte und gegen das vor Schreck zurückweichende Kind vorwärts rückte, bis dieses das Gestell voll Angst fallen ließ und davon lief. Ich machte nun den Versuch ebenfalls, indem ich den Tafelständer ungefähr in der Mitte seiner Länge und unter einer Neigung nach rückwärts von zehn bis fünfzehn Grad mit der Verticalfläche mit den Fingerspitzen an beiden Seiten nur so weit unterstützte, daß er nicht umfallen konnte und die obige Neigung beibehielt. Sofort gerieth das Gestell, nachdem ich ihm vorher auf der einen Seite einen ganz leichten Anstoß gegeben, in rasche pendelartige Schwingungen und bewegte sich, indem sich die Füße abwechselnd hoben und senkten, unter einem klopfenden Geräusche vorwärts. Der leiseste Druck der aufgelegten Fingerspitzen rechts oder links genügte, um den wandelnden Ständer willkürlich eine Schwenkung nach der einen oder andern Richtung machen zu lassen oder ihn nach Belieben im Kreise umherzuführen. Die Bewegung dauerte unausgesetzt so lange fort, wie der Rahmen in der angegebenen Neigung unterstützt blieb und kein besonderes Hinderniß. z. B. ein Nagel, Holzstückchen etc. oder die zu große Unebenheit in den Fugen des Fußbodens sich hemmend entgegenstellte.

Da mich diese jedenfalls auffallende Erscheinung, welche bei der Sensation, die sie in unserer Stadt erregte, noch von vielen Anderen ebenso hervorgerufen und beobachtet wurde, sehr interessirte, so ließ ich ein zweites solches Gestell mit einigen Abänderungen anfertigen, und ich hatte die Genugthuung, daß dasselbe noch besseren Dienst leistete und in der Minute gegen dreihundert Schwingungen machte, wobei es in dieser Zeit mit einem Geräusche, wie es ein auf dem Zimmerboden einherrollender Kinderwagen verursacht, um über anderthalb Meter vorrückte.

Bei einem weiteren Experimente verband ich die beiden Seitentheile des Ständers durch eine Schnur, in deren Mitte ich eine andere, über die ganze Länge des Locals reichende Schnur anknüpfte und letztere horizontal in der geeigneten Höhe, um die richtige Neigung des Gestelles zu unterhalten, mit ihrem Ende über eine Rolle führte, an dem ein entsprechend schweres Gewicht angehängt war. Wurde nun denn in dieser Weise unterstützten Rahmen ebenfalls ein leichter Anstoß gegeben, so kam er ohne alles weitere Dazuthun in dieselbe Bewegung, welche so lange andauerte, bis das Gewicht durch das Nachrücken des Ständers abgelaufen war und auf dem Boden aufsaß.

So viel ich weiß, ist die oben beschriebene physikalische Erscheinung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_084.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)