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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Die Bändigung der drei „Unbezwinglichen“.

Nicht in die geräuschvolle Ringbahn, wie die Ueberschrift anzudeuten scheint, soll uns unsere heutige Plauderei geleiten, sondern in die stillen Laboratorien der Chemiker, in denen während der letzten Tage des Jahres drei große Triumphe über die träge Materie errungen worden sind: man hat daselbst die letzten drei Gase, welche den stolzen Namen der „Incoërciblen“, das heißt der Unbezwinglichen führten, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserftoff, sowohl für sich, wie in dem Gemenge, in welchem die ersteren beiden unsere atmosphärische Luft darstellen, dergestalt in die Enge getrieben, daß sie sich in tropfbare Flüssigkeiten verwandelt haben. Das große Interesse, welches sich an diese neueste Errungenschaft der physikalischen Chemie knüpft, ist ein vorwiegend theoretisches, aber doch auch von allgemeiner philosophischer Bedeutung, sofern es die Allgemeingültigkeit gewisser Grundgesetze bestätigt, wie die Auseinandersetzungen alsbald zeigen werden, die wir der Beschreibung jener Experimente vorausschicken müssen.

Die Erfahrungswissenschaft hatte längst gelehrt, daß im Allgemeinen alle Stoffe in drei Zuständen erhalten werden können, die man ihre Aggregatzustände nennt, nämlich: fest, flüssig und gasförmig. Bei dem festen Zustande der Körper nimmt man an, daß ihre kleinsten Theile eine beziehungsweise gleichbleibende Lagerung gegen einander behaupten, wenn man aber fortdauernd Wärme zuführt, so werden jene Theilchen gegen einander verschiebbar, der Körper schmilzt, und wenn die Wärmezufuhr fortdauert, so gelangen die Theilchen dahin, sich gegenseitig abzustoßen, die geschmolzene Masse siedet und verwandelt sich in classischen Dampf, und zwar wird dieses Abstoßungsbestreben der Theilchen, welches wir als Dampfkraft benützen, am schnellsten zur Geltung kommen, wenn der auf der Flüssigkeit ruhende Luftdruck hinweggenommen wird. Es bringt somit im Allgemeinen Abkühlung und Druck Verdichtung der Massen, Wärmezufuhr und Druckabnahme Verdünnung hervor.

Natürlich läßt sich der skizzirte Wandlungsproceß nur bei einfachen und solchen zusammengesetzten Stoffen durch alle drei Stufen hindurchführen, welche die zu ihrer Verflüssigung oder Verflüchtigung erforderliche Hitze ohne chemische Zersetzung vertragen; organische Producte, wie Holz oder Fleisch, lassen sich nicht ohne Zersetzung schmelzen, geschweige denn in Dampf verwandeln. Auch chemische Verbindungen, wie z. B. der kohlensaure Kalk unserer Kalkgebirge, zersetzen sich oft schon vor ihrem Schmelzen in ihre näheren Bestandteile, hier also in Kohlensäure und gebrannten Kalk, aber in einem luftdicht verschlossenen Flintenlaufe kann man jene beiden Bestandtheile zwingen, bei einander zu bleiben, und den kohlensauren Kalk wirklich schmelzen, um eine Art künstlichen Marmors zu erhalten, denn auch der natürliche Marmor ist anscheinend nichts anderes, als unter dem starken Druck darüber liegender Erdschichten durch vulcanisches Feuer halbgeschmolzener kohlensaurer Kalk.

Bei manchen Körpern, wie z. B. der Kohle und den edlen Metallen, gehört eine sehr gewaltige Hitze dazu, um sie zu schmelzen, allein man hat nicht nur die erstere mit Hülfe starker elektrischer Ströme geschmolzen und dabei künstliche schwarze Diamanten erhalten, sondern die edlen Metalle durch die in großen Brennspiegeln verdichtete Sonnenwärme oder durch den elektrischen Strom sogar in Dampf verwandelt. Der amerikanische Physiker A. W. Wright hat erst kürzlich eine Methode entdeckt, um selbst die am schwersten schmelzbaren Metalle, wie z. B. Platin, durch den elektrischen Funken im luftverdünnten Raume zu verflüchtigen, um diesen Metalldampf auf andere Flächen niederzuschlagen und so z. B. Platinspiegel für Fernröhre zu erzeugen, die an Politurfähigkeit und damit auch an unveränderlicher Leistungsfähigkeit alle früheren Teleskopspiegel weit hinter sich lassen dürften. Von manchen Stoffen, wie z. B. dem metallischen Arsenik, schien es eine Zeitlang, als ob sie sich nicht schmelzen ließen, weil sie sich bei starker Erhitzung ohne Schmelzung verflüchtigen. Das liegt aber, wie man bald fand, nur daran, daß ihr Schmelz- und Siedepunkt allzunahe bei einander liegen, in einer luftdicht verschlossenen Glasröhre, in welcher sich der Siedepunkt unter dem eigenen Dampfdrucke erhöht, läßt sich Arsenik sehr leicht schmelzen.

Ebensowohl nun, wie sich alle festen, feuerbeständigen Körper endlich schmelzen und verflüchtigen lassen, wenn man nur den erforderlichen Hitzegrad zu seiner Verfügung hat, so müssen natürlich auch alle flüssigen Körper zur Erstarrung gebracht werden können, was zuweilen schwerer ist, als das Verdampfen derselben. Quecksilber, ein bereits bei circa vierzig Grad unter Null schmelzendes Metall, verdampft schon bei gewöhnlicher Temperatur und mittlerem Atmosphärendruck merklich; die „Fixirung“ dieses beweglichsten aller Körper, bei dem daher der rührigste Gott des griechischen Olympes, Mercur, Pathe stehen mußte, war ehemals ein Bravourstück der alten Physiker; mit den Mitteln der Neuzeit gelingt es – wie wir weiterhin sehen werden – sogar, dasselbe in einem rotglühenden Platintiegel in ein hämmerbares Metall zu verwandeln. Auch die Schwierigkeiten, die man früher fand, ätherische und alkoholartige Flüssigkeiten zum Erstarren zu bringen, sind mit jenen Mitteln gehoben worden, und die Herstellung eines gefrorenen Cognacs oder sonstiger Liqueure bietet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr. Vor einigen Jahren haben die Physiker Melsens und Horvath Branntwein von fünfzig Procent Alkoholgehalt bei vierzig bis fünfzig Grad Kälte in Eis verwandelt, welches ganz angenehm schmeckte, während Wassereis von ähnlich niedriger Temperatur[WS 1] Blasen auf der Zunge ziehen dürfte. Erst auf siebenzig Grad abgekühltes Branntweineis schmeckte etwas empfindlich, etwa wie ein Eßlöffel heißer Suppe. Dreißig Grad kalter Branntwein, der wie dicker Syrup fließt, zeigte sich sogar als ein sehr wohlschmeckendes Getränk, man mußte es aber aus hölzernen Bechern probiren, weil an einen Metallbecher die Lippen alsbald anfrieren würden.

Wenn nun alle festen und flüssigen Körper mit unwesentlichen Ausnahmen in die drei Zustände gebracht werden können, wie steht es nun in diesem Punkte mit denjenigen Stoffen, die unter mittleren Druck- und Temperaturverhältnissen nur im luftförmigen Zustande bekannt sind? Ist der Sauerstoff, ohne den wir keine zwei Minuten bestehen können, auch nur der Dampf eines festen Körpers? Ist selbst der dünnste und leichteste aller Stoffe, das Wasserstoffgas, mit welchem man die ersten Luftballons füllte, der Dampf eines erst bei unerhörter Kälte erstarrenden Metalles, wie das Quecksilber ein gewöhnlich flüssiges Metall? Diese Fragen sind theoretisch sehr interessant, und Diejenigen, welche überzeugt sind, daß die Gesammt-Natur von festen und unwandelbaren Gesetzen beherrscht wird, zweifelten schon lange nicht mehr daran, daß auch sämmtlichen Gasen, wie eben allen Stoffen, ihre drei Zustände zukommen. Der große Chemiker, welcher in der französischen Revolution sein Leben auf der Guillotine endigen mußte, Lavoisier, schrieb bereits vor einem Jahrhundert:

„Betrachten wir einen Augenblick, was mit den verschiedenen Stoffen unseres Erdballes geschehen würde, wenn seine Temperatur eine gewaltsame Aendernung erführe! Nehmen wir zum Beispiel an, daß die Erde sich plötzlich in eine viel heißere Region des Sonnensystems versetzt fände, in eine Gegend, wo die gewöhnliche Wärme bedeutend diejenige des siedenden Wassers überstiege, so würden bald das Wasser und alle bei ähnlicher Temperatur siedenden Flüssigkeiten, ja sogar mehrere Metalle verdampfen und Theile der Atmosphäre bilden. Wenn durch eine entgegengesetzte Wirkung die Erde sich plötzlich in sehr kalte Regionen, zum Beispiel in diejenigen des Jupiter oder Saturn versetzt fände, so würde das Wasser, welches heute unsere Flüsse und Meere bildet, sowie wahrscheinlich der größte Theil der Flüssigkeiten, welche wir kennen, sich in feste Berge verwandeln. Die Luft, oder wenigstens ein Theil der luftförmigen Substanzen, welche unsere Atmosphäre zusammensetzen, würde wegen des Mangels eines hinreichenden Wärmegrades aufhören, im Zustande einer unsichtbaren Flüssigkeit zu verharren und tropfbar flüssig werden, und dieser Wechsel würde neue Flüssigkeiten erzeugen, von denen wir heute keine Idee haben.“

Der Seherblick Lavoisier’s hat seit lange, und auf eine weniger das Menschenleben in Frage stellende Weise, seine Bestätigung erhalten. Sechs Jahre nach seinem Tode, um die Wende des Jahrhunderts, gelang es bereits den Naturforschern Monge unnd Clouët, eines jener Gase, welche sich häufig der Atmosphäre beimischen, den stechend riechenden Dampf des

brennenden Schwefels, zu einer Flüssigkeit zu verdichten. Im

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Temepratur
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_080.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2023)