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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


6.

Frau von der Wehr wohnte in dem freundlichen, weißgetünchten Häuschen oberhalb der Schmiede, das einer Wittwe gehörte, die im Sommer ihre Stuben für die Badegäste ausräumte und sich bescheiden nebenan in der Scheune eine Stube herrichtete. Ein wohlerhaltener, ebenfalls mit weißem Kalk angestrichener Staketenzaun umschloß den kleinen Obstgarten. Aus dem Zelt hatte man eine hübsche Aussicht über den Mühlenteich und die grünen Hügel drüben. Wer nicht große Ansprüche machte, konnte dort im Juli und August einen stillen und behaglichen Aufenthalt finden.

Die Dame, die bei ihrer Arbeit im Zelte saß, trug nicht mehr ein schwarzes Kleid, aber das bleiche Gesicht zeigte einen grämlichen Zug, und die Stirn hatte einen finsteren Ausdruck. Das Leidensjahr hatte seine Spur zurückgelassen: diese Augen mochten heimlich viel geweint, dieser Mund oft geseufzt haben. Und doch bedurfte es vielleicht nur eines Sonnenblickes des Glückes, um die eigene Schönheit und Lieblichkeit dieser anmuthigen Erscheinung wieder zur vollen Geltung zu bringen.

Wer ihre letzten Lebensschicksale kannte, hätte vielleicht darauf eine Erklärung für die Wahl gerade dieses Sommeraufenthaltes finden können. Im allerkleinsten Maßstabe wiederholte sich hier die Localität, von der ihre Gedanken nicht lassen konnten. Da war ein wenig Berg und Thal; da glänzte der helle Wasserspiegel, und des Müllers Boot versuchte sich manchmal darauf sogar in Segelfahrten; da hob sich das Ufer staffelartig, besetzt mit kleinen Häusern, und in einem der höchsten und einsamsten wohnte sie selbst bei einer alten Wittwe, die sie immer versucht war Frau Ursel zu nennen. In der Ferne hoben sich zwar nicht die mächtigen Schneehäupter der Alpen, aber ein anderes Natur-Mächtiges mahnte oft an seine Nähe: das Meer mit seinem eintönigen Brausen. Trat sie Abends vor das Zelt und blickte sie auf den Teich hinab, der sich nicht in seiner ganzen Ausdehnung übersehen ließ, so konnte sie denken, jetzt stehe vielleicht Max Werner auf der Terrasse vor seinem Hause und blicke, wie sie, träumend von entschwundenem Glücke, der scheidenden Sonne nach. Was sie bewegte, durfte Niemand wissen, auch Irmgard nicht. Nie mehr war zwischen Mutter und Tochter von den Erlebnissen in Thun gesprochen, nie wieder des Malers Name genannt worden.

Der Architekt fand Frau von der Wehr im Zelte. Er hatte sein Kommen brieflich gemeldet, ohne doch den Tag zu bestimmen, und so kam er erwartet und zugleich unerwartet. Was der Referendar in Betreff ihrer äußeren Erscheinung mitgeteilt hatte, bestätigte sich ihm vollkommen, aber ebenso gab sich auch schon in den ersten Minuten eine krankhafte Erregbarkeit zu erkennen, die ihn, da er ihren Grund nicht ahnte, peinlich berühren mußte. Kaum hatte er sich vorgestellt und seine Absicht ausgesprochen, die vorläufigen Entwürfe zum Bau des Siechenhauses vorlegen zu wollen, damit die Damen ihre Wahl treffen könnten, als Frau von der Wehr von einem nervösen Zittern befallen wurde, in Thränen ausbrach und mühsam eine Entschuldigung stammelte. Die Erinnerung an ein sehr trauriges Ereigniß, sagte sie, das den Entschluß zu diesem wohlthätigen Werke hervorgerufen habe, überwältige sie.

Harder wollte nach einigen Stunden wiederkommen, aber sie hielt ihn zurück und versicherte, sie werde sich bald wieder beruhigt haben. So war es auch. Der Architekt konnte seine Rolle öffnen und die Zeichnungen auf dem Tische ausbreiten.

Eben war er damit beschäftigt, den Grundriß zu erklären, als Irmgard aus der Thür des Hauses trat und auf das nahe Zelt zuging. Sie trug ihre Mappe wie ein Präsentirbrett, wozu sie auch dem kleinen Malkasten und dem Wasserglase darauf dienen sollte. Der Architekt, der sich über den Tisch gebeugt hatte, richtete sich auf, um zu grüßen, und hob plötzlich den Kopf höher, als er sah, wer sich näherte. Auch Irmgard stutzte; das Wasser im Glase kam in eine schaukelnde Bewegung und floß über den Rand. Ein Blick aus den Tisch überzeugte sie, mit wem sie’s zu thun habe.

„Sie sind …?“ sagte sie und stockte.

„Der Architekt Robert Harder,“ ergänzte er lächelnd, „der sich den Damen vorstellen möchte, die ihn mit einem Bau zu beauftragen die Güte hatten. Ich habe zufällig schon heute früh das Vergnügen gehabt –“

„Sie also waren der Fremde, von dem Irmgard erzählte, als sie ungewöhnlich schnell von ihrem Morgenspaziergange zurückkehrte,“ sagte Frau von der Wehr, dem Mädchen freundlich zunickend. „Nun, ich finde nicht, daß Herr Harder so gar schreckhaft aussieht.“

„Das habe ich auch nicht behauptet,“ entgegnete Irmgard tief erröthend. „Es erschreckte mich nur, daß ein Fremder mich anredete – es erschreckte mich nicht einmal; nur daß er gleich meine Zeichnungen revidirte –“

„Ich bemerkte zu meinem größten Bedauern,“ fiel Harder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_075.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)