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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Doch es war ein Uhr und das Festprogramm versprach auf diese Stunde die zweite Tageserscheinung. So erhob ich mich denn und watete langsam im fußhohen Schlamm den himmlischen Ueberraschungen entgegen.

Der seit Kurzem für die ganze päpstliche Welt so interessante heilige Ahorn von Dietrichswalde befindet sich nebst der Kirche und dem Pfarrhause innerhalb einer Umzäunung auf dem Scheitel einer mäßigen Anhöhe, die im Westen und Süden von der breiten Dorfstraße begrenzt wird. Kirchhof, Bergböschung und Straße fand ich schwarz bedeckt mit erwartungsseligen Menschen, deren überaus anspruchsloses religiöses Gefühl meist eine bloße kirchliche Ceremonie schon befriedigt, deren fromme Einbildungskraft die bunte Welt der guten und bösen Geister, der glücklichen Seligen und der vielvermögenden Heiligen so schön bevölkert und deren im Glauben gebeizter, vornehmster Gedankenniederschlag ein nächster Ablaß ist mit seiner bewährten Garantie der himmlischen Wonnen und seinen so züchtigen irdischen Freuden. –

Eine gewaltige Aufregung pochte sichtlich an die Herzen all dieser Tausende von Menschen. Man trug soeben einen bleichen, kranken Mann zur Wunderstätte, und es gelang mir, hinter diesem Leidenszuge bis an die Umzäunung vorzudringen. Hier hatte ich nun in geringer Entfernung vor mir den so hoch begnadeten Baum, den Gegenstand des Wohlgefallens der heiligsten Jungfrau und Mutter, dieser jetzt einzigsten Verkehrsvermittlerin zwischen Himmel und Erde. Von ganz unscheinbarem, sogar etwas dürftigem Aeußeren gabelt er sich bei etwa zweieinhalb bis drei Meter Höhe in zwei lange, spierige Aeste, welche eine nur spärliche Krone tragen. Die Stelle, wo die Gebenedeite im einfachen, himmelblauen Kleide ihren erhabenen Verkündigungssitz einnimmt, ist mit Kränzen verziert und ein kleines, quadratisches Staket, mit vielen Lappen, Flaschen und Bildern, wohl zum Zwecke der Heiligung dieser Gegenstände, fromm behängt, sichert ihn gegen etwaige reliquiensüchtige Beschädigung. Die gläubige Menge bestand dreiviertel aus dem zarteren Menschengefüge, aus frommen Frauen. Die schon ausgebildeten wahrhaft Heiligen waren vorn am Wunderbaume, die von erst geringerer kirchlicher Zucht mehr zurück und die Männer bescheiden am Zaune gruppirt. Alles aber knieete oder lag gar in Kreuzesform starr auf der schlammigen Erde.

Da trat feierlich aus der weit geöffneten Pfarrhausthür eine hochwürdige Schaar päpstlicher Priester, zwei festlich geschmückte, der Muttergottes ansichtig gewordene Mägdlein geleitend, und knieete gottselig nieder mit den Kindern im Angesichte des heiligen Wunderbaumes. Alle die Tausende aber richteten in Scheu und Furcht ihr Antlitz zum göttlichen Sitze empor, während die feierlichste Stille diesen weihevollen Augenblick beherrschte. – Nach nur kurzer Zeit erhoben sich voller Geheimnisse wieder die Kinder, wurden von den geistlichen Herren bei den Händen erfaßt und unter heiligen Gebräuchen in das Pfarrhaus zurückgeleitet. Das im Innersten durchbebte Volk aber schluchzte und weinte in der Freude seines empfundenen Heilglückes und erhob einen jubelnden Lobgesang, welcher nur von dem Klingen und Klappern der vielumdrängten Opferbüchsen noch übertönt wurde. Das war die zweite Wundererscheinung dieses heiligen Offenbarungstages.

Welche göttlichen Kundgebungen aber die frommen Priester von den auserkorenen Mägdlein erforschten, das verkündeten dann nach einigen Tagen die frommen Caplanzeitungen mit weihevollen Worten. So hatte es sich diesmal um zwei für das Christenthum überaus wichtige Fragen gehandelt: ob nämlich das in der Dietrichswalder Kirche vorhandene Bild einer schwarzen Muttergottes wohl wunderthätige Kraft besitze, und ob auch dieselbe göttliche Eigenschaft einem Quellwasser beiwohne, welches dem dortigen Pfarrlande entspringt. Beides wurde in gnädigster und leutseligster Weise bejaht. Ebenso zufriedenstellend soll die Beantwortung der gleichfalls durch die Kinder vermittelten Fragen einzelner Frommen hinsichtlich der Krankheiten ihrer Schweine, Ziegen, Hühner etc. ausgefallen sein, sodaß an diesem gesegneten Tage ein glänzendes Offenbarungsresultat erzielt und die Beschwerden und Kosten der weiten Reisen wohl reichlich aufgewogen wurden.

Auch geschah ein großes Zeichen und Wunder zwar nicht an einem der vielen Kranken und Krüppel, wohl aber an einem der wichtigsten und nothwendigsten Bekleidungsstücke eines geweihten Priesters. Denn als der fromme Pfarrer Bieber[1] aus Pronikau nach heißem, inbrünstigem Gebete vor dem heiligen Baume sich vom Knieen aus dem tiefen Schmutze erhob, da hatte die Hochgelobte in höchst schmeichelhafter Sorge um seine so keusche und unschuldsvolle Priesterhose diese vor Befleckung gänzlich bewahrt. Wahrlich, ein Zweig des göttlichen Wunderschaffens von der verhängnißvollsten Bedeutung!

Während nun die frommen Priester die so wichtigen Offenbarungen und das schöne Wunder niederschrieben und begeistert von all dieser Gnade den Antrag um einen päpstlichen Ablaßbrief für den gottgefälligen Ahornbaum entwarfen, gewann das Treiben an der Kirchbergsböschung und auf der Dorfstraße wieder ein mehr weltliches Gepräge. Zwar blieb der Kirchhof auch außer den auf sieben Uhr Morgens, ein Uhr Mittags und sieben Uhr Abends feststehenden Erscheinungen mit wechselnden Andächtigen gefüllt und die heiligen Gebräuche nahmen ununterbrochen den ganzen Tag ihren Fortgang, doch außerhalb der Umwährung kam wieder mehr das rein menschliche Bedürfniß vor dem seelischen zur Geltung. Im Weggehen von der heiligen Stätte vernahm ich noch das plattdeutsche Zwiegespräch zweier halbwüchsigen ermeländischen Bauernjungen über den Erscheinungsvorgang:

     „Hest Du sei seihn, Josepp, de heilig Jungfru?“

     „Nee, ’t was all vorbi, as ick ankamm.“

     „Wur mag sei eintlich up dem Bohm sitten?“

     „Je, dor wur de Kräns’ hängen dauhn!“

     „Na, wenn sei dorhen ruppeklawwern (hinaufklettern) deiht, ward sei sick ok scharp (sehr) fasthollen möten.“

Die Verkaufsbuden machten gewiß ein glänzendes Geschäft, schienen aber auch auf’s Reichhaltigste und Beste ausgerüstet zu sein. Da war die Muttergottes in Bildern mit und ohne Glas, auf Leder, Zeugen und Papier, sie war vorhanden in Metall, Gyps und Holz, aus Guttapercha, Pfefferkuchen und Seife. Der letzte Artikel – „aus Seife“ – ging am schlechtesten, wohl weil die frommen Pilger heute größtentheils Polen waren. Neben den Heiligenbildern waren Perlenschnüre mit Kreuzen oder Amuletten aus den verschiedensten Grundstoffen, Crucifixe, Lämmer Gottes und Gebetbücher die gangbarsten Handelsartikel. Die deutsche Sprache, worin letztere geschrieben waren, galt bei den Polen als weiter kein erhebliches Ankaufshinderniß, insofern sie des Lesens überhaupt unkundig sind. Eine ältliche Frau hatte ihren Hals schon mittelst vier Ketten mit Kreuzen und Marienmedaillen geschmückt, sodaß sie klapperte wie ein Frachtpferd. Hier traf ich auch aus meinem Heimathsorte unsern sogenannten „Herrgottshändler“. Wenn schon dem Manne, als orthodoxem Juden, sein ganzer Kram gewiß ein Gräuel war, so schien dieser Affect doch seine Stimmung nicht zu trüben, worauf wohl „ein gutes Geschäft“, wie er mir mit vergnügtem Augenblinken zuraunte, nicht ohne Einfluß sein mochte.

In den Häusern, Scheunen, Buden und auf den Straßen war überall Schmutz und ein brausendes Leben. Hier kamen, dort gingen fortwährend fromme Wallfahrtszüge, zumeist unter Gesängen und kirchlichem Gepränge. Daneben hatte man freilich auch in den bekannten lebhaften Wallfahrtsfarben die wechselvollen Bilder der erlösungsbedürftigen Menschennatur und des den Himmel ererbenden Stumpfsinns. Der menschlichen Vernunft aber macht es gewiß alle Ehre, trotz der feindlichen Maßregeln des Zweifels, des Unglaubens und der Teufelsmacht doch auch in den Offenbarungen zu Dietrichswalde die ewigen, wahrhaft beseligenden Heilswahrheiten richtig zu erkennen und daran zu glauben.

Eine Stunde etwa verweilte ich noch an der heiligen Stätte dieser schönen Gottseligkeit; dann sehnte ich mich aus diesem Sumpfe hinweg, gewann ein Fuhrwerk und kehrte zum Bahnhofe zurück.

R. K.
  1. Hat es auch selbst in der „Germania“ erzählt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_030.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)