Seite:Die Gartenlaube (1878) 014.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

in Wirklichkeit sind das die Athmungsorgane des Thieres – und das halbstumpfe Austerngäbelchen den „natives“ besonders wohl tun? Prinzen, Herzöge, Earls und Lords scheuen sich nicht, zur Vertreibung der Langweile dem edelsten Genossen des Menschen, dem Pferde, im verrücktesten Sport die Beine zu zerschmettern, diesem Thiere aus angeblichen Schönheitsgründen den Schweif abzuschlagen, es zu „anglisiren“, den Hunden Ohren und Schweif zu kappen und ihnen gewisse mit der Wirbelsäule in directer Verbindung stehende Sehnenbündel auszureißen, damit der Spitz die Ruthe schön hoch zu tragen genöthigt sei. Werden nicht auf Treibjagden die Thiere des Waldes zu Tode gehetzt? Ergötzt nicht der dürre Lord sein bornirtes Gehirn an dem Todeskampfe des abgejagten Sechszehnenders? Wenn diese „haute-volée“ der Gesellschaft das fromme Mäntelchen der Humanität in der Vivisectionsfrage umzuhängen für zweckdienlich findet, warum erwirkt sie nicht vor allen Dingen ein Gesetz, welches Proceduren verbietet, die nur zum Zwecke eingebildeten Vergnügens oder leiblicher Genußsucht in Ausführung kommen?

Wir wollen mit diesen Auseinandersetzungen nicht sagen, daß wir der absolut freien Ausübung der Vivisection das Wort reden. Die Bewegung in England hatte jedenfalls das Gute, daß dem in der That blinden Fanatismus mancher Vivisectoren des Continents ein gewisser moralischer Zügel angelegt wurde. Bei allem Respecte vor der freien Forschung und deren Mitteln können wir uns des Abscheues nicht erwehren, wenn wir lesen, daß ein französischer Physiolog Brachet ein Experiment, die „expérience morale“, anstellte, um die Grenzen der Anhänglichkeit eines Hundes an seinen Herrn wissenschaftlich zu constatiren, für welche „Arbeiten“ er von der französischen Akademie mit einem Preise gekrönt wurde. Brachet quälte seinen Hund, so oft er ihn sah, auf alle erdenkliche Weise. Er zerstörte seine Augen, damit er ihn nicht erkennen könne, und da das nicht genügte, durchbohrte er das Trommelfell in beiden Ohren und füllte das innere Ohr mit geschmolzenem Wachs an. „Dann liebkoste ich das Thier,“ fährt er in seinem Berichte an die Akademie fort, „und nun, da es mich weder sehen noch hören konnte, zeigte es nicht nur keinen Zorn, sondern schien trotzdem nicht unempfindlich für meine Liebkosungen.“

Magendie, ein anderer Experimentator, schlitzte den Leib einer trächtigen Hündin auf, um zu sehen, ob sich ihre Mutterliebe auch im Momente des Todes beim Anblicke ihrer Jungen geltend machen würde. Die arme Hündin beleckte noch sterbend ihre Jungen. Bouillard, ein Dritter, durchbohrte die Stirn eines Hundes an zwei Stellen und führte ein rothglühendes Eisen in jede Hälfte des vorderen Gehirnes ein, um zu sehen, ob in den vorderen Hemisphären der Sitz des Schmerzes sei und jede weitere Schmerzäußerung von dem Thiere vermieden werden würde. Das arme Thier heulte und schrie aber, sodaß keine klaren, definitiven Schlüsse aus dem Versuche gezogen werden konnten. In neuerer Zeit gipfeln die Experimente großentheils in Zerstörungen des Rückenmarks, um zu ergründen, ob dieser oder jener Theil des betreffenden Organes diese oder jene Lebensthätigkeit regiert. Hunde werden in solchem qualvollen Zustande Wochen, ja Monate, sogar, wenn möglich, Jahre lang aufbewahrt, um zur ständigen Illustration des Gefundenen oder nicht Gefundenen zu dienen. Die Qualen, welche die Lehrer der Physiologie den Versuchsthieren in früheren Jahren auferlegten, unterscheiden sich von der heutigen bezüglichen Thätigkeit in eben dem Grade, wie sich die damalige und die jetzige Wissenschaft von einander unterscheiden. Die alte Physiologie fragte eben nur nach den „Erscheinungen“ des organischen Lebens. Wenn einem Hunde ein Loch in den Bauch geschnitten wurde, das man durch ein kleines Glasfenster verschloß, um in den Magen des Thieres hineinzusehen und dort die Thätigkeit der Verdauungssäfte zu beobachten, so wurde das Thier unter der Einwirkung des Chloroforms einmal einer unumgänglich nothwendigen Operation unterzogen, die Ränder der Operationswunde wurden zur Heilung gebracht und dann das mit der Magenfistel behaftete Thier Monate, ja Jahre hindurch zu experimentellen Zwecken am Leben erhalten, ohne im Geringsten durch Qualen bei Wiederholung des Versuches belästigt zu werden. Ein Gleiches gilt von denjenigen Experimenten, welche zum Behufe der Entdeckung der Gesetze der Blutcirculation vorgenommen wurden. Wenn einem Thiere eine größere Ader geöffnet und diese alsdann durch Gummiröhren mit den Meßapparaten des Blutdruckes in Verbindung gebracht wurde, bereiteten solche Methoden der Vivisection, nachdem die zugehörige Operation in der Chloroform-Narkose einmal vorgenommen waren, dem Thiere keine Schmerzen mehr. Die für das Thier erwachsenden Unbequemlichkeiten wirkten niemals Abscheu erregend auf das Gemüth des Zuschauers.

Während sich nun die alte Physiologie mit Experimenten welche die „Erscheinungen“ des organischen Lebens zu erklären suchten, begnügte, stellt die junge Wissenschaft die tiefer gehende Frage auf: „Was ist das Leben selbst, was ist die Seele?“ und da sie nach den Principien der materialistischen Weltanschauung das organische Leben und die Seelenthätigkeiten von vornherein als nichts anderes betrachtet, denn als einen mechanisch-chemischen Proceß, so durchsucht sie theoretisch die gesammte Nerven-Sphäre und das Gehirn des Menschen nach dem örtlichen Sitze der Seelenorgane – praktisch aber, da man bis heute noch nicht so weit „fortgeschritten“ ist, an Menschen Vivisectionen zu machen, durchstöbern ihre Jünger Gehirn und Nervengebilde der Thierwelt nach der bis jetzt unentdeckten Centralstätte des Lebens. Es hat übrigens schon Anatomen gegeben, welche sich nicht entblödeten, Menschen zu gleichen Zwecken zu benutzen; so der Anatom Gabriel Fallopia, ein modenesischer Edelmann, welcher zu Pisa, im Jahre 1561 zum Tode verurtheilte Verbrecher zur Vornahme von Versuchen über die Wirksamkeit der Gifte sich ausliefern ließ. Der berühmte Wiener Anatom Joseph Hyrtl knüpft hieran die sarkastische Bemerkung, „daß, wenn heute die peinliche Justiz die Missethäter als Schlachtopfer an die experimentirenden Physiologen ausböte, an modernen Fallopia’s kein Mangel sein würde“. Auch die Wissenschaft hat ihre Fanatiker.

Wir geben zu, das physiologische Studium und die Krankheitslehre können vom heutigen Standpunkte der Forschung aus der Vivisectionen im Allgemeinen nicht entbehren, aber jene sinnlosen Qualen, wie wir sie von den oben erwähnten Forschern erzählt, werden auch sicher von jedem Fachmanne, dem das Herz im Leibe noch nicht zu Eis erstarrt ist, verdammt werden. Es wird übrigens in der Mehrzahl der Vivisectionen, welche man in deutschen Laboratorien vornimmt, durch wirksame Betäubungsmittel – meist durch eine Morphiumeinspritzung in eine Vene, durch eine Dosis Chloral oder durch Chloroformirung – der erste Schmerz des Eingriffes benommen, mit Ausnahme derjenigen Fälle, in welchen eine Narkotisirung das zu gewinnende wissenschaftliche Resultat beeinträchtigen würde.

Es wird Niemandem einfallen zu leugnen, daß dem Menschen das Recht zusteht, sich der Thiere zu bestimmten Zwecken zu bedienen, sie zu Sclaven zu machen und auch sie zu Selbsterhaltungszwecken zu tödten. Zu diesen bestimmten Zwecken, welchen der Mensch das Thier zu opfern berechtigt ist, gehört – und das wird wohl auch von keinem Freidenkenden beanstandet werden – die Verwendung zu wissenschaftlichen Untersuchungen, besonders wenn aus denselben ein praktischer Nutzen für die Gesundheit und die Lebensverlängerung des menschlichen Individuums zu erwarten steht. Dagegen folgt andererseits durchaus nicht aus der Thatsache des Thierbesitzes das Recht, aus irgend welchen Gründen ein Thier zu quälen. Daß besonders in Deutschland nicht nur an physiologischen Laboratorien, sondern in vielen, mit medicinischen Instituten in Verbindung stehenden Arbeitszimmern auf das Unbarmherzigste und mitunter von durchaus unberechtigten jungen Leuten in der zwecklosesten Weise gerade Thiere, welche dem Menschen besonders nahe stehen, mißhandelt werden, ist ein offenes Geheimniß.

Das größte Contingent jener Vivisectionspfuscher überfluthet von Rußland aus die deutschen Laboratorien. Junge Halbasiaten, welche auf Kosten der „Krone“ zu wissenschaftlichen Reisen nach dem Westen geschickt werden, wühlen täglich auf deutschen Hochschulen in den Eingeweiden lebender Thiere herum, um mit viel Experiment und wenig Denken aus den Convulsionen und Verstümmelungen jener bedauernswerthen Geschöpfe Material zu einer Doctordissertation zu sammeln. Schreiber dieses erinnert sich aus seiner Universitätszeit lebhaft der Entrüstung, welche das bezügliche rohe Gebahren jener Sendlinge osteuropäischer Cultur in den Gemüthern deutscher Studenten wachgerufen hat. Es gestehen die Aerzte den Mißbrauch solchen Treibens zum Theil ganz offen, zum Theil nur dem Collegen gegenüber zu, und gar oft wird das unnöthige Eingreifen in das Leben der Thiere von dieser

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_014.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)