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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Ein Lieblingsschlummerplatz der Böhämmer ist die sogenannte „Peternell“, ein langer, von Erzschachten durchhöhlter, mit Edeltannen bewachsener Berg, der hinter der Stadt das waldfrische, reizende Wiesenthal keilförmig spaltet. Sein Felsenrücken trägt noch Spuren versunkenen Gemäuers, welches die Ueberlieferung zum Castell einer altrömischen Jungfrau Petronella macht. Sie soll der Stadt den Wald geschenkt und sonst Gutes gethan haben. Die Geschichte weiß nichts von der geheimnißvollen Dame, deren Geist noch den Berg umschwebt. Weiter oben am Gebirge, im „Dompeter“ bei Molsheim, der ältesten, vorkarolingischen Kirche des Elsasses, zeigte man lange den jetzt nach Straßburg gebrachten Sarg einer heiligen Petronilla, der angeblichen Tochter des Apostels Petrus. In Wahrheit hatte in dem Sarge jedoch eine edle Römerin, Terentia Augustola, geruht. Ob nun die Sage an diese Thatsache angeknüpft hat oder nicht: Petronella, welche dem Lieblingsberge der Bergzaberner ihren Namen hinterlassen hat, ist die Schutzpatronin der „Böhämmer“, wie die Bewohner des Städtchens selbst im Pfälzer Volkswitz getauft worden sind. Ihre eigenthümliche Jagd beschränkt sich jedoch bei weitem nicht auf die „Peternell“ und deren nächste buchenreiche Umgebung, sondern dehnt sich manchen Winter oft wochenlang über das ganze Waldgebirge aus, wobei die Schützen am Tage schlafen, wo sie ein Lager finden, und zur Nachtzeit dem Waidwerke obliegen. Das sind so beschwerliche und aufreibende, wie aufregende Jagdzüge.

Nun könnte man fragen, ob neben der Lust am Ungewöhnlichen die nächtliche Böhämmerjagd auch eine Beute liefere, welche diese Mühseligkeiten lohne. Das ist einigermaßen der Fall. Der Böhämmer ist ein zwar kleiner, aber feiner Braten und wird nicht selten als Krammetsvogel verspeist; sein Fleisch ist von ähnlichem, pikant bitterlichem Geschmacke, wie das aller Vögel, die sich mit ölhaltigen Früchten und Nadelholzsamen mästen. Es ist im Herbste so fett und zart, daß man beim Rupfen Acht haben muß, die Haut nicht mit abzuziehen. Man könnte den feisten Vogel als Thranlicht verwenden, was in Lappland – woher er zu uns kommt – auch geschehen mag. Mit gebratenen Kastanien ist er den Feinschmeckern in Bergzabern ein leckeres Reizmittel zum Trunke des „Neuen“. In guten Böhämmerjahren wird er sogar zum Handelsartikel und als Leckerbissen weit verschickt.

Lange galt selbst in der Pfalz die Böhämmerjagd für eine Fabel, welche in Bergzabern ersonnen worden, um den „Finkenfang“ zu beschönigen. Man leugnete sogar die Existenz des Böhämmers, der in keiner Naturgeschichte vorkomme. Und in der That hat bis zur Stunde noch kein Naturforscher im übrigen Deutschland der merkwürdigen Erscheinung irgend welche Aufmerksamkeit geschenkt. Ueber Art und Namen des Vogels gab es im Böhämmerlande selbst verschiedene Meinungen. Die Einen erklärten das Wort „Böhämmer“ für die verdorbene Aussprache von „Buchammer“, da man den Vogel auch einzeln und haufenweise mit anderen Ammern im Winter vor die Dorfscheunen kommen sah. Andere deuteten den Namen auf seine Herkunft aus den böhmischen Wäldern und schrieben „Böheimer“. In Altbaiern heißen die Jäger den Seidenschwanz, der ebenfalls aus dem skandinavischen Norden kommt, „Böheimerl“. Galt doch Böhmen – auch bei Shakespeare – als Heimath alles Fabelhaften oder Geheimnißvollen, dessen Ursprung man nicht kannte. Und noch sind den Franzosen die streunenden Zigeuner „Bohémiens“.

Mag dem nun sein, wie ihm wolle, unser Böhämmer ist kein Czeche, seiner Nationalität nach eher ein Schwede, nach Gestalt und Zeichnung keine Ammer, sondern ein ausgesprochener kräftiger Fink, als solcher auch im übrigen Deutschland nicht unbekannt. Kurz, es ist der Bergfink (Frigilla montifringilla), der in den skandinavischen Wäldern, hoch oben am Sulitelma auf den Kjölen, bei den Lappen und Finnen oder in Jämtland nistet und brütet, im Spätherbste nach Deutschland wandert und im Frühlinge wieder über das Kattegat in seine nordische Heimath zieht. Dem Buchfink ähnlich, doch gröber und größer, ohne Gesang, ist er nicht ganz so schön gezeichnet, der Rücken dunkel, Brust, Schulter und Vorderleib rostgelb, die Querbänder auf den Flügeln weiß – ein starker, bissiger, wilder, gefräßiger Patron. Einzeln oder truppweise treibt er sich zur Winterzeit in deutschen Bergwäldern und Bauernhöfen umher, heißt bald Tannenfink, bald Wald- und Mistfink oder auch Gägler, kommt bis in die Schweiz und soll – nach Tschudi – im Emmenthale sogar brüten. Ueber die Alpen jedoch geht er nicht; selbst deren niedrigste Paßeinsenkungen scheinen dem feisten Gesellen zu hoch.

Seinen Hauptwanderzug, der in schneereichen Wintern aus unermeßlichen Schaaren besteht, nimmt er, zwischen Rhön und Vogelsberg hindurch, in die oberrheinische Ebene, zur buchengrünen Haardt, vorzugsweise in die Laub- und Tannenforste des pfälzischen Wasgau bei Bergzabern, von hier bei strenger Kälte wohl auch weiter, über Lothringen die Saône hinunter in’s Rhonethal, zum kleinern Theil über die Ardennen nach Frankreich hinein „an der Loire grünen Strand“. So folgt und traut er mehr den minder hohen Waldgebirgen, welche in ihrem schönen Wechsel von Laub- und Nadelforst leckeres Mahl und bequeme Ruheplätze, dabei dem fettfaul gewordenen Vogel leichte Uebergänge bieten. Alle diese Bedingungen vereinigt der vielfach zerklüftete Wasgenwald hinter Bergzabern; kein Wunder, daß hier der „Böhämmer“ am liebsten einkehrt. Die Hochvogesen meidend, erfolgt sein Heimzug auf derselben Route, wobei nochmals Mast und Rast im Pfälzer Wasgau gehalten wird, um nach üppigem Gelage bei schwindendem Schnee nach dem Norden zu ziehen, ohne die im Schlafe verlorenen Genossen zu vermissen. So sah man bei Epinal und Luneville ungeheure Züge mit dem Südwest tagelang über die Felder weiter streichen, um noch auf der Heimkehr am gewohnten Orte einzukehren zur Weide und Nachtruhe.

Heute kennt man nun den Böhämmer und dessen Jagd in der ganzen Pfalz. Nach Professor Medicus in der „Bavaria“ ist der wunderliche Vogel jetzt so volksthümlich geworden, daß ihm ein vielgebrauchter bildlicher Ausdruck entlehnt ist. In jedem pfälzischen Wirthshaus laden nämlich die Sitzenbleibenden, wenn Abends solide Gäste nach Hause gehen, sich gegenseitig ein, zu „böhämmern“, nämlich zusammen zu rücken, um die Lücken so gemüthlich auszufüllen, wie die Bergfinken, wenn sich ihre Reihen lichten. Selbst die Franzosen in Weißenburg, deren Jagdgebiete mit denen von Bergzabern in der Mundat an der Lauter zusammenstießen, kannten den Vogel, hielten ihn jedoch für einen Wallonen und nannten ihn pinçon d’Ardennes.

Bergzabern ist und bleibt aber die Böhämmermetropole. In den letzten „Vogelwintern“ kamen fremde Jagdliebhaber und Neugierige dahin, um bei Schneefall und Fackelschein in die Schlüfte des Wasgenwaldes nach Bohämmern auszuziehen, unter seltsam beleuchteten Felsgruppen zu rasten, Scenen, wie ich sie in „Hedwig“ geschildert, zu erleben oder auch nur bei dem trefflichen „Neuen“ des weinreichen Städtchens[1] von alledem gemütlich zu plaudern. Denn die Böhämmer bilden dann winterlang den ausschließlichen Gesprächsstoff. Hier ist die seltsame Jagd altherkömmlich und waidmännisch ausgebildet worden. Wo jedoch ihre Anfänge liegen, darüber schweigt die Geschichte. Allein die ursprüngliche Art und Weise dieses Waidwerks, Ausrüstung, Waffe und Geschoß deuten auf hohes Alter. Vielleicht haben schon Otfried’s Klosterbrüder so in der Mundat nach Böhämmern gejagt. Blasrohr und Lehmkugel müssen der Handfeuerwaffe vorausgegangen sein, haben vielleicht zu deren Erfindung geführt, da der Luftdruck bei beiden die treibende Kraft bildet.

Immerhin darf man sich von der Wirkung solchen Geschosses keine zu geringe Vorstellung machen. Zwischen dem langen, äußerst accurat, solid und fein gearbeiteten, mit kleiner Seele versehenen, achteckigen hölzernen Hinterlader von Bergzabern und dem, was man anderwärts Blasrohr nennt, ist ein Unterschied, wie zwischen einem Lefaucheux und einer alten Radpistole. Für die Vogelwelt ist es die gefährlichste Waffe. Sehe ich heute solche halbwüchsige Bursche mit dem langen Rohr im Freien, dann jammern mich die kleinen Sänger. Erinnere ich mich doch der Zeit, wo wir Jungen selbst, in Ermangelung von Lehmkugeln, mit unreifen Weinbeeren den kräftigen Wendehals und Neuntödter vom Kastanienbaum schossen und sogenannte Stechbolzen halbzolltief in’s Zielbrett trieben. Die Wirkung läßt sich darnach ermessen. Lehmkugeln, mit welchen die Böhämmer erlegt werden, bleiben zumeist im Fleische stecken und finden sich beim Zerlegen des Bratens. Wenn sich Böhämmerschützentrupps einander in’s Gehege kommen ober einer dem andern Eins aus Jux versetzt, erprobt sich zuweilen gegenseitig die Trefffähigkeit der Waffe.

  1. Gute „Vogeljahre“ sind auch fast immer gute Weinjahre – in Bergzabern.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_011.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)