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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Thür. „Nun aber rasch zurück und gerade aus hinunter!“ bat sie, „die Mutter wartet gewiß schon; bergab geht’s auch ohne Pfad.“ Während sie noch am Rande den passendsten Abstieg suchten, näherte sich auf dem Wiesenwege eine alte Frau dem Hause. Sie trug einen Korb am Arme, aus dem der Hals einer Flasche und das Blattwerk von Gemüse hervorschaute. Hinter ihr ging ein Knabe, der ein breites Weidengeflecht auf dem Kopfe balancirte, in dem sich Fische befanden. Sie sahen sich nach den Reisenden um, sprachen sie aber nicht an und verschwanden hinter dem Hause, zu dem sie wahrscheinlich gehörten.

In hellem Lachen ging’s hurtig bergab. Die auf der Steinbank hatten indessen schon verabredet, zu Wasser nach der Stadt zurückzukehren. Kein Lüftchen kräuselte die Fläche des Sees. Nicht weit unter ihnen am Ufer lagen Böte. In wenigen Minuten waren sie erreicht.

Der Referendar ließ dem Schiffer nicht lange die Ruder; er wollte ihm beweisen, daß er auch „vom Wasser etwas verstehe“. Und wie man nun so auf leichtem Kahne über das weiche Naß hinglitt, eine rothgoldige Furche ziehend, und mit wonnigem Behagen die feuchtkühle Luft athmete und zu den leuchtenden Berghäuptern aufschaute, an denen die Schattenlinie höher und höher stieg, fing der Eine und Andere an etwas zu summen. Die Töne stimmten zusammen, und ohne Verabredung wurde eine bekannte Melodie vernehmbar. Die Ruder hoben und senkten sich im Tacte dazu.

Oben hinter den Fenstern der einsamen Villa ließ sich ein Lichtschein bemerken. Irmgard, die sich an ihrer Mutter Schulter gelehnt hatte, zuckte wie erschreckt. Sie hätte ihre Visitenkarte gern wieder in ihrem Täschchen gehabt.

2.

Der Maler war aus den Bergen zurückgekehrt, nicht lange nachdem seine alte Haushälterin mit dem Mundvorrath für die nächsten Tage eingetroffen war und ein Herdfeuer angefacht hatte, um ein frugales Nachtmahl zu bereiten.

Ein kleiner Bursche, in der Kleidung eines Sennhirten, trug ihm ein Reißbrett und den Malkasten. „Du kannst es morgen früh wieder abholen,“ sagte er ihm beim Abschied. „Ich bin mit eurer Lisi und ihrem prächtigen Kälbchen noch lange nicht fertig. Mindestens noch drei Tage brauch’ ich. Und Deiner Schwester lange Zöpfe und rothe Backen müssen auch auf das Bild – sag ’s ihr nur!“

Er war draußen stehen geblieben, während der Knabe sein Gepäck im Zimmer absetzte, nahm den breitrandigen Strohhut ab und trocknete die hohe kahle Stirn. So weit sich’s in der Dämmerung erkennen ließ, war er ein Mann in den Vierzigern, knochig und sehnig, ein recht struppiger, dazu ungleich beschnittener Bart umlief das Kinn; die dunkeln Augen lagen tief unter den vorgewölbten Stirnknochen. Er ging um’s Haus herum, klopfte an’s Fenster der Küche und rief hinein. „Ich bin zurück, Ursel. Ist meine Suppe bald fertig?“ – „Bald, Herr Werner,“ war die Antwort. Das Feuer flammte heller auf.

Der Maler zündete eine Cigarre an, lehnte sich mit der Schulter gegen den Pfosten der offenen Hausthür und blickte über den See hinaus. Eben ließ sich von dort her die Melodie der „Loreley“ vernehmen. Er zuckte mitleidig die Achseln. „Glückliche Menschen,“ murmelte er, „die nicht wissen, was es bedeuten soll, daß sie traurig sind. Sie wundern sich über ihre Traurigkeit und singen sie weg. Wenn die Wellen Schiffer und Kahn verschlungen haben, ist ihnen wieder leicht um’s Herz. Sie zahlen ihr Fährgeld und trotten vergnügt weiter. Närrisches Volk!“

Ursel rief ihn zum Essen. Er verzehrte sein frugales Mahl mit gutem Appetit und begab sich bald zur Nachtruhe.

Am anderen Morgen war Werner früh auf und beschäftigte sich mit dem Bilde auf der Staffelei. „Es fehlt doch der rechte Zug von Heiterkeit,“ sagte er, „den so etwas haben muß. Grimassen – Grimassen! Licht und Schatten thun’s nicht allein und das ‚treu nach der Natur‘ ebenso wenig. Wenn … ja, wenn! Pah! es wird auch so seinen Abnehmer finden. Fort damit, sobald die Farben getrocknet sind! Robert braucht Geld.“

Werner dachte an den Sohn seiner Schwester, den er unterstützte.

Als er dann vor dem Spiegel Toilette machte, das spärliche Haar über der knochigen Stirn glättete und den wilden Bart kämmte, fiel sein Blick zufällig auf den Kasten und seinen Inhalt von Papieren. Er hob das oberste Blättchen auf und las: „Hugo Hell, Tribunals-Referendarius – dankt für den unerwarteten Kunstgenuß.“ Werner wiegte verwundert den Kopf hin und her, und der Mund verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Hugo Hell? Ich erinnere mich nicht … Aber gleichviel – er hat mein Atelier mit seiner Gegenwart beglückt und das Bedürfniß gehabt eine Spur seines Daseins zurückzulassen. – Ah! auch eine zierliche Visitenkarte.“

Der Maler hob sie auf und stutzte. „Von der Wehr?“ Er ließ die Hand über Stirn und Augen gleiten und sah wieder auf die Karte. „Von der Wehr – es steht da. Aber nicht Elisabeth von der Wehr – Irmgard. Vielleicht …“ er athmete schwerer – vielleicht ihre Tochter. Die Jahre vergehen rasch, wenn man sie nicht zählt. Ihre Tochter! Ich kann sie mir nur nicht vorstellen als – Mutter einer erwachsenen Tochter. Elise – das jugendliche Gesichtchen – die zierliche Gestalt … Werner schüttelte den Kopf; sein Blick fiel in den Spiegel. „Aber der da – der sieht heut auch anders aus. Die Stirn kahl, die Haut fahl …“ Er öffnete mit einem Schlüssel die Schieblade des Tisches und hob ein Bild in Medaillenform heraus. „Das konnten sie mir nicht nehmen – das war mein künstlerisches Eigenthum. So sah ich Dich – und so wirst Du in meiner Erinnerung leben bis an’s Ende meiner Tage.“

Er blickte mit dem Ausdruck innigster Betheiligung auf das Bild. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, das Gesicht wurde milde und freundlich. Nun hielt er die kleine Visitenkarte mit der zierlichen Namensunterschrift neben das Medaillon, als ob er beide vergleichen wollte, lächelte und schüttelte wieder den Kopf. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. „Wozu das – wozu? Es ist ja alles vorbei – längst vorbei. Es kommt nie mehr wieder. Wenn wirklich ihre Mutter … aber nein! Diese da ist’s doch nicht. Die Frau eines … was weiß ich? Die Mutter dieser jungen Dame, die ihre Visitenkarte – mir –“

Sein Gedankengang schien unterbrochen zu werden. „Mir“ – wiederholte er wie aufmerkend mit ganz anderer Betonung. Er behielt Bild und Karte in den Händen und schritt im Zimmer auf und ab. „Warum ließ sie mir diese Karte zurück? Wußte sie –? Sollte ihre Mutter ihr gesagt haben –? Aber wie konnte ihre Mutter meinen Aufenthalt erkunden? Niemand kennt mich hier, Niemand weiß … Unmöglich, ganz unmöglich! Ein zufälliges Zusammentreten der Namen – nichts weiter.“

Werner verschloß das Bild wieder. Das Blättchen mit der Bleifederschrift zog jetzt seine Aufmerksamkeit mehr als vorhin auf sich. „Referendar Hell – der hat sie jedenfalls hierher begleitet. Vielleicht der Bräutigam. … Was geht’s mich an? Neugieriges Touristenvolk, das sich hierher verirrte und …“

Ursel kam und meldete, daß der kleine Senne schon auf ihn warte.

„Ist gestern Jemand hier gewesen?“ fragte er.

Die Alte besann sich. „Wohl möglich, Herr Werner! Als ich aus der Stadt zurückkam, begegnete ich hier oben zwei Herren und einer jungen Dame.“

„Zwei Herren?“

„Wie ich sage. Sie wollten eben den Berg hinab und schienen mir vom Hause her zu kommen.“

„Der Eine der Herren war noch ein junger Mann –?“

„Der Andere auch.“

„So – so! Und die Dame?“

„Ja, beschreiben kann ich sie nicht; sie trug ein schwarzes Kleid …“

„Ein schwarzes Kleid … so, so! Ein schwarzes Kleid …“

„Kann der Martin nach dem Malkasten kommen?“

„Noch nicht, Ursel; ich bin noch nicht fertig; ich habe noch … ich werde ihn rufen.“

Der Maler lief unruhig durch das Zimmer. „Ein Zufall! Warum ein Zufall? Und was ist ein Zufall? Eine Verkettung von Umständen, deren Zusammenhang uns kurzsichtigen Menschen dunkel erscheint. Wenn man’s Schickung nennt … Vielleicht ist’s eine Schickung. Der Name mahnt –“

„Er blieb am Fenster stehen und drückte die Stirn gegen die Scheiben. Woran? An verlorenes Liebesglück, an eine zerstörte Jugend, an ein Leben voll Qual und Pein in der Entsagung. Daran! Nein, ich will nicht noch einmal Thorheit!“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_004.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)