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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

hinab nach dem Seeufer zu. So waren sie an einer Reihe hübscher Villen vorübergegangen, und noch immer schien dieselbe nicht abbrechen zu wollen, wenn schon der Raum zwischen den einzelnen Häusern allmählich breiter wurde.

„Was halten wir uns immer auf der bequemen Straße?“ rief der Referendar endlich ungeduldig. „Wie wär’s, wenn wir einmal hier links abschwenkten und auf diesem reizenden Ziegenpfade aufstrebten? Er geht noch weit über den berühmten Jägerstieg an der Spitze unserer heimischen Wolfsschlucht. Erreichen wir jene hochgelegene Wiese, so lohnt uns sicher der prachtvollste Fernblick. Was sagen Sie dazu, meine Damen?“ Er war schon eine Strecke hinauf geeilt und sprach die letzten Worte von einem vorspringenden Steine wie von einer Kanzel aus. Sein Bruder folgte ihm auf dem Fuße.

„Ja, was sagen Sie zu diesen Sausewinden, beste Cousine?“ fragte der Rath lachend. „‚Nur um’s Himmelswillen nicht auf der bequemen Straße bleiben!‘, das ist Paragraph eins ihres Reisegesetzes, aber ich muß bekennen, daß man meist gut dabei fährt, wenn man sich ihnen fügt. Heute aber steht den Damen ein Veto zu, und ich werde dafür sorgen, daß es respectirt wird.“

Irmgard sah ihre Mutter an, neugierig, was sie wohl antworten werde. Es wäre ihr gewiß gar nicht so unlieb gewesen, wenn sie zugestimmt hätte.

Frau von der Wehr schien mit einem flüchtigen Blicke die Höhe schätzen zu wollen. „Ich möchte den jungen Leuten nicht das Vergnügen verkümmern,“ äußerte sie dann mit leiser, etwas leidend klingender Stimme, indem sie ihren Arm sanft aus dem des Rathes zog. „Folgen Sie Ihren Reisegefährten, lieber Cousin! Ich setze mich mit Irmgard auf diese Steinbank, und wenn’s uns zu lange währt, gehen wir langsam voraus nach der Stadt zurück.“

„Aber warum sind wir nicht mit von der Partie, Mama?“ fiel das Töchterchen, wie sich vergessend, lebhaft ein.

Das bleiche Gesicht der Mutter wandte sich mit dem Ausdrucke der Ueberraschung ihr zu. Irmgard wurde roth, senkte die langen blonden Augenwimpern und spielte mit dem silbernen Kettchen an dem Griffe ihres Sonnenschirmes. „Ich meinte,“ erläuterte sie halb verlegen, halb ärgerlich, „weil wir sonst – wenn wir allein sind – immer die allergewöhnlichsten Wege gehen und heute einmal Gelegenheit wäre, den See von da oben … Aber wie Du willst – es kam mir nur so.“ Sie biß die Lippe mit den kleinen Zähnen, sicher mit sich selbst unzufrieden, daß sie ihren Wunsch verrathen hatte.

„Wenn Du mich allein lassen willst, liebe Irmgard …“

„Ich bleibe,“ fiel Irmgard schnell und entschieden ein, indem sie sich zugleich der Steinbank näherte.

Der Rath hüstelte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wie wär’s, verehrte Cousine,“ äußerte er lächelnd, „wenn Sie mir erlaubten, Ihnen hier Gesellschaft zu leisten? Ich gestehe, daß es mich, in Voraussicht der morgenden Strapazen, wenig reizt, dem Himmel einige hundert Fuß näher zu kommen. Das junge Volk könnte ja nach Gefallen ausschwärmen und wird sich nach einer halben Stunde leicht zu uns zurückfinden.“

Frau von der Wehr bedachte sich ein Weilchen. „Willst Du die Herren begleiten?“ fragte sie, wohl einer Ablehnung gewiß.

Sie täuschte sich. „Sehr gern, Mama,“ antwortete das Mädchen. „Ich möchte einmal da hinauf. Vom See aus habe ich auf der Höhe ein Haus gesehen, das eine wunderschöne Lage hat. Wer dort wohnen könnte! – dachte ich mir. Und vielleicht ist’s oben gar nicht so reizend. Ich meinte nur, weil es so hoch und so ganz allein steht.“

„Gut, geh’ nur!“ sagte die Mutter.

Die jungen Leute waren bald auf der Bergstiege hoch über ihnen. Der Referendar jodelte lustig.

Frau von der Wehr und der Rath nahmen auf der Steinbank Platz. „Sind da meine kleinen Junggesellenersparnisse nicht trefflich angelegt?“ fragte Letzterer, hinaufhorchend. „Diese naturwüchsige Freude an der schönen Welt! Man fängt mit der Jugend noch einmal an zu leben. Sie sollten sich rasch entschließen, beste Cousine, uns in die Berge zu begleiten. Es ist gerade die mäßigste Jahreszeit für’s Berner Oberland.“

„Das wäre nichts für mich,“ antwortete Frau von der Wehr kopfschüttelnd. „Die geringste Anstrengung ermattet mich, und meine Stimmung ist meist so wenig heiter, daß ich es für meine Pflicht halten muß, mich möglichst in die Einsamkeit zurückzuziehen.“

„Ah! Bei Ihren dreiunddreißig oder vierunddreißig Jahren!“ wendete der Rath mißbilligend ein. „Aelter können Sie kaum sein. Ich denke, Sie waren siebenzehn, als Sie heiratheten – gerade halb so alt wie mein Cousin, der sich doch noch mit Recht zu den jüngeren Herren zählte.“

„Ich bin leider weit über meine Jahre alt,“ entgegnete die Dame mit einem Seufzer, der durchaus aufrichtig klang.

„Man sieht’s Ihnen doch nicht an,“ meinte der Rath, sie mit seinen klugen und freundlichen Augen wohlgefällig musternd. Man hätte ihm zustimmen müssen.

„Darf ich ein offenes Wort sprechen, beste Cousine?“ begann Pfaff nach kurzer Pause wieder, da sie nicht antwortete und halb abgewendet mit der Spitze des Schirmes Figuren in den Sand zeichnete. „Sie machen sich zu viel Gedanken über Dinge, die nicht zu ändern sind. Alles hat seine Zeit, auch die Trauer um die Todten, und wenn man noch die besten Ansprüche an’s Leben hat –“

„Lieber Herr Rath!“

„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, gnädige Frau! Ich bin nun einmal im Zuge und will meine Weisheit loswerden. Gefällt sie Ihnen nicht, so werde ich’s für keinen Verlust erachten, in die Luft gesprochen zu haben. Hier ist gerade die rechte Zeit und der rechte Ort zu einer Erörterung dieser Art. Sehen Sie, hinab über den spiegelhellen See, in die Ferne zu den himmelhohen Bergen mit dem rosigen Weiß ihrer Schneespitzen! Ist das nicht ein Anblick, der das Herz weiter macht? Wozu sich verschließen gegen die Stimme eines Freundes, der’s gut meint?“

„Sie wissen nicht –“

„Ich weiß Alles, ich bedenke Alles. Sie haben ein trauriges Schicksal gehabt. Die besonderen Umstände waren nur zu sehr geeignet, in Ihrem weichen Gemüthe Eindrücke zu befestigen, die im Augenblicke für unauslöschlich gelten konnten. Aber sind sie’s denn wirklich für alle Zeit? Sollten sie’s sein? Mein Cousin war gewiß ein braver Mann, in seiner Art ein ungewöhnlicher Mann, und ich glaube gern, daß er Sie von Herzen lieb gehabt hat, so wenig er auch zu den zärtlichen Naturen gehörte, die ihr Gefühl leicht zu erkennen geben. Er ist als der tapfere Führer seines Bataillons in dem ruhmreichsten Kriege, den je die deutsche Nation geführt hat, auf dem Schlachtfelde von feindlichen Kugeln getroffen worden und nach schweren Leiden in Ihren Armen gestorben. Er hatte nach seinem einzigen Kinde verlangt, und Sie hatten Irmgard mitgenommen. Die sehr beschwerliche Reise durch Feindesland, immer mit der Befürchtung zu spät anzukommen, die Sorge um das Kind, der Anblick der Schlachtfelder, das traurige Wiedersehen im Feldlazarett, der Abschied … Weiß ich Alles? Bedenke ich Alles? Aber es sind Jahre darüber vergangen, und Sie sind zu jung, um für immer mit dem Leben abzuschließen. Wozu noch heute und selbst hier auf der Reise dieses schwarze Kleid, das recht absichtlich an das Betrübliche erinnert – wozu?“

Frau von der Wehr hatte sich vorgebeugt und mit dem Schirm einen kleinen Stein hin- und hergeschoben. Eine Thräne fiel auf die schwarze Spitzenmanschette an ihrer Hand. „Das schwarze Kleid ist mir nicht mehr ein Traueranzug –“ sagte sie leise.

„Und was sonst?“ fragte der Rath. „Darf ich’s wissen?“

„Es ist ein Kleid, das mich der beschwerlichen Aufgabe überhebt, täglich darauf zu denken, wie ich mich kleiden soll – es harmonirt durchaus mit meiner Stimmung, kommt meinem Bedürfniß entgegen, von dem heiteren Schwarm der Menschen gemieden zu werden, ist wirklich in Allem eins mit mir.“ Die schöne Frau seufzte schwer. „Sie können mir das nicht nachfühlen. Mein ganzes Leben …“

„Sprechen Sie sich aus!“ bat der Rath, als sie zögerte.

Sie schüttelte den Kopf. „Brechen wir ab davon! Ich erkenne Ihre gute Absicht an, mir eine Wohlthat zu erweisen – es steht nur nicht in meiner Macht …glauben Sie mir, es steht nicht in meiner Macht, sie anzunehmen. Sie können mich nicht verstehen.“

„Gut! ich dringe nicht weiter in Sie. Aber muß denn auch Irmgard empfinden wie Sie? Ein so junges Geschöpf … es ist unnatürlich. Warum geht auch Irmgard noch immer schwarz gekleidet?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_002.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)