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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Mozart“, welcher von dem außerordentlichen Erfolge getragen war. Das Bestreben, den Lieblingscomponisten des deutschen Volkes diesem auch in erzählender Form näher zu bringen, förderte ein Buch zu Tage, welches rasch auch zu einem Lieblingsbuch der deutschen Familie wurde, vier Auflagen erlebte und in einer englischen Ausgabe in New-York erschien. Auch wurden die ersten fünf Romane dieses Genres sämmtlich in deutsch-amerikanischen Blättern nachgedruckt, selbstverständlich ohne daß der Autor nur einen Pfennig Honorar dafür erhielt, ebenso wenig wie für die New-Yorker englische Ausgabe seines „Mozart“. Auch sein „Beethoven“ brachte es noch zu einer zweiten Auflage.

Bereits 1843 hatte Rau einen Band Gedichte bei Frank in Stuttgart und vier Jahre später einen „Deutschkatholischen Volkskalender“ bei Groos in Heidelberg erscheinen lassen. Das Jahr 1859 brachte unter dem Titel „Natur, Welt und Leben“ eine neue Gedichtsammlung (Leipzig, O. Wigand) und einen Volkskalender „Nach der Arbeit“ (Frankfurt, Meidinger) von ihm, welch letzterer so großen Absatz fand, daß der ersten rasch vergriffenen Auflage eine zweite folgen mußte, was auch mit seinem Kalender für das nächste Jahr der Fall war.

Es ist klar, daß eine solche fast überreich zu nennende literarische Fruchtbarkeit – liegen von Heribert Rau im Ganzen doch, von seinen kleineren Schriften und Broschüren, Operntexten etc. abgesehen, achtundvierzig Werke in einhundertdrei Bänden gedruckt vor – nur zu ermöglichen war durch eine ganz außerordentliche Productionskraft, einen nie ermattenden Fleiß und einen rastlosen, fast verzehrenden Schaffensdrang. Ja, „verzehrend“ in des Wortes strengster Bedeutung. Denn ohne diesen fieberhaften, sich selber nie genugthuenden Drang und das unablässige Ringen und Streben, demselben Befriedigung zu verschaffen, hätten wir den liebenswürdigen und treuen Mann wohl noch Jahre lang unter uns weilen und wirken sehen. Wie er es aber trieb, bleibt nur zu verwundern, daß sich sein von Haus aus kräftiger Körper nicht noch früher aufgerieben hat. In der Periode seines angestrengtesten Schaffens, wie manche Nacht machte er zum Tage, wie kürzte er die so nöthige Zeit des Schlummers, „wo das Gehirn seine Mahlzeiten hält“, auf ein Minimum von oft nur zwei bis drei Stunden ein, bis lange nach Mitternacht im Bette lesend und so die Vorstudien zu seinen eigenen Arbeiten machend, dann, nach kurzem, unruhigem Schlummer, sich des Morgens um drei oder vier Uhr wieder vom Lager erhebend, um die Gebilde seiner Phantasie oder die Gedanken, welche seinen nie rastenden Geist erfüllten, auf’s Papier zu übertragen. Und dann: wie empfand er, was er schrieb! Seine Romanschöpfungen, welche er abschnittweise, wie sie entstanden, im Familienkreise vorlas, hat er völlig in sich durchlebt, und als er so eines Tages das Todescapitel aus seinem „Mozart“ den Seinen vorgelesen, war ihnen Allen, als sei ein ihnen theurer Mensch geschieden. Der Autor zumeist aber empfand Freud’ und Leid mit den Gestalten seines dichterischen Schaffens, und wenn er daran ging, das Ende eines seiner Helden zu schildern, so schnitt ihm das selber in’s Herz, und diese Empfindungen zitterten noch tagelang in ihm nach. Zu dem schweren Nervenleiden, das den letzten Abschnitt seines Erdendaseins verdüsterte, hat er in jenen Tagen einer schriftstellerischen Ueberproduction und Ueberanspannung seiner geistigen Zeugungskraft sicher den Grund gelegt.

Eine gleich umfassende und vielseitige Thätigkeit wie Rau hat vor ihm kaum ein zweiter deutscher Schriftsteller entfaltet. Die von ihm geschaffene, so überaus große Zahl von Werken aus fast allen Zweigen der Literatur konnte natürlich nicht überall und immer von gleichem Werthe sein, und nun gar zu verlangen, daß er auch auf allen wissenschaftlichen Gebieten, über die er geschrieben, als Selbstforscher thätig gewesen, hieße das Universalgenie eines Humboldt von ihm fordern. Er ließ sich daran genügen, das Edelmetall der Wissenschaft, welches Andere aus den Tiefen heraufgeholt, in handliche, gangbare Münze umzuprägen und unter die Leute zu bringen, und wenn er hier auch dann und wann einmal fehlgriff und für echtes Gold nahm, was die exacte Wissenschaft bereits wieder als Irrthum verworfen hatte, so verschwinden derartige gelegentliche Fehlgriffe verglichen mit den unleugbar großen Verdienste, welches sich Rau dadurch erwarb, daß er so viele Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung überhaupt in ansprechender Form zu popularisiren wußte. Den Leitsternen seines Lebens: Liebe zum Vaterlande, Freiheit des Gedankens, Aufklärung des Volkes und Erziehung desselben zu edler Menschlichkeit, ist er wissentlich niemals untreu geworden, und in diesem Sinne hat er auch auf einen außerordentlich großen Leserkreis anregend, erhebend und befruchtend gewirkt.

Die deutschkatholische Gemeinde in der Frankfurt benachbarten Fabrikstadt Offenbach am Main berief im Sommer 1868 Rau in ihre erledigte Predigerstelle. An der Spitze dieser Gemeinde stand damals noch, und bis zu seinem am letzten Tage des eben genannten Jahres erfolgten Tode, derselbe Mann, welcher sie 1845, als die erste des südwestlichen Deutschlands, in’s Leben gerufen hatte: Rau’s alter Freund und Kampfgenosse, der durch seine Poesien auch in weiteren Kreisen bekannt gewordene Kaufmann Joseph Pirazzi. Dieser lenkte die Wahl der Gemeinde auf Heribert Rau, welcher mit Freuden dem an ihn ergehenden Rufe Folge leistete, seinen Wohnsitz zwar im nahen Frankfurt beibehielt, während der nächsten sechs Jahre aber, bis zum Sommer 1874, ununterbrochen als Prediger und Religionslehrer in Offenbach thätig war.

Diese neue Wendung seiner Lebensbahn gab dem in letzter Zeit durch mannigfache widrige Schicksale, namentlich auch durch bedeutende pecuniäre Verluste, welche zum Theil auf das Fallissement des Verlegers seiner gelesensten Romane zurückzuführen sind und sich bei herannahendem Alter und naturgemäß abnehmender Productionskraft doppelt schmerzlich fühlbar machten, verdüsterten und gebeugten Manne wie mit einem Zauberschlage die alte Federkraft und Thatfreudigkeit neu zurück. Mit der Begeisterung eines Jünglings warf er sich noch einmal in die Wogen der religiösen Bewegung, und seine schwungvollen Vorträge füllten allsonntäglich die weiten Räume der Offenbacher freireligiösen Gemeindehalle mit einer aus allen Confessionen gemischten zahlreichen Zuhörerschaft. Während der Wintermonate hielt er daneben auch noch an Wochenabenden vielbesuchte Vorlesungen aus dem Gebiete der Erdbildungs-, Kirchen- und Culturgeschichte in Offenbach, die dann später ebenfalls im Buchhandel erschienen sind – ja, überdies fand er in diesem Endabschnitte seines arbeitsvollen Tagewerks auch noch zu zwei neuen Romanschöpfungen Zeit und Kraft und auch eine neu überarbeitete und erweiterte vierte Auflage seines „Katechismus der Vernunftreligion“ erschien noch im Jahre 1873.

Es war das letzte Aufleuchten der dem Erlöschen nahen Schaffens- und Lebenskraft, welches sich in diesen Vorträgen und Schriften documentirte. Spuren des Alters und des heranschleichenden körperlichen Verfalls zeigten sich bereits im letztgedachten Jahre bei unserm Freunde, und gleichen Schritt damit hielt eine sich neuerdings wieder bei ihm einstellende gemüthliche Verstimmung, welche zeitweise bereits in düstere Schwermuth überging. Die einst so elastische Spannkraft seines Geistes, die ihm früher innewohnende hohe Freudigkeit des Strebens und Wirkens begannen allgemach zu erlahmen und zu weichen: der Gedanke, vor der Zeit aus dem Kreise der Seinen und eines ihm liebgewordenen Berufes scheiden zu müssen, drückte den einst so kräftigen Mann nieder; er erschien gramvoll und sorgenbeschwert, und die ehedem so elastische Spannkraft seines Geistes mit einem Male geknickt und gebrochen.

In den Tagen des Sonnenscheins und der Stürme hatte Rau die verständnißinnigste Freundin, die treuste Beratherin und Mithelferin in der theuren Gefährtin seines Lebens, Friederike Wilhelmine geborene Müller aus Frankfurt, gefunden, mit der ihn seit dem Sommer 1839 das Band der glücklichsten Ehe vereinigte. Sie ist, wie er selbst von ihr gesagt, die lichte Seite seines Daseins gewesen. Die Charaktere beider Gatten hatten sich schön ergänzt, Eines ging in dem Andern völlig auf, und nur auf dem Boden eines so ungetrübten ehelichen Zusammenlebens konnte so viel Gutes und Schönes erwachsen. Heribert Rau wußte das richtige, gesunde Urtheil seiner Frau auch wohl zu schätzen, und selten ging, ohne daß er es zuvor befragt hatte, eine Arbeit von ihm in die Oeffentlichkeit. In manchem widrigen Geschick seines Lebens war ihm der edle und dabei feste Charakter seiner Gattin eine Stütze und ihr feinfühliger Tact, ihr scharfer Blick wußten in schwierigen Momenten, wo die Wage seines Willens anstand, den richtigen Ausschlag

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_879.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)