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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 52.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Nach fünfundzwanzig Jahren!

Vergangen sind nun fünfundzwanzig Jahre,
Seit dieses Blatt hinaus in’s Weite trieb,
Und längst zog heimwärts auf der stillen Bahre
So mancher Freund, der’s las, und der’s beschrieb,
Und ob wir neue immerdar gewannen,
Die Schaar der Treuen täglich sich vermehrt,
Ach! Vieles nahmen Jene mit von dannen,
Das, unersetzlich, niemals wiederkehrt: –
In tiefe Wehmuth muß es uns versenken,
Wenn uns’rer Todten heute wir gedenken.

Und blicken wir auf unser eig’nes Leben:
Kein steter Frühling hat uns angelacht,
Manch’ rauher Sturm ließ auch das Blatt erbeben,
Oft drohte schon des Winters finst’re Nacht;
Doch sei vergessen, was wir je gelitten!
Auch uns’re Mühen krönt der schönste Lohn;
Es ist vollbracht, wofür auch wir gestritten,
Wofür auch wir erfahren Haß und Hohn –
Die lange Schmach der Zwietracht ist vernichtet,
Und neu geeinigt Deutschland aufgerichtet.

Mit allen Fasern haben wir gehangen
An dir, geliebtes, heil’ges Vaterland,
Die rastlos wir um die Getrennten schlangen
Des deutschen Geistes unzerreißbar Band;
Wir haben Noth und Leid mit dir getragen;
Wir kämpfen ohne Wanken immerfort,
Bis du dereinst wirst hoch und herrlich ragen,
Des Rechtes und der Freiheit Felsenhort,
Und daß dein Ruhm von Jahr zu Jahr sich mehre,
Das sei in Zukunft uns’re höchste Ehre!

Doch eine Stätte haben wir erlesen –
Dort ruhen wir am allerliebsten aus;
Dort blüht im Keime still das deutsche Wesen,
Am deutschen Herd im echten deutschen Haus;
Wo hart sich müht der Vater für die Seinen,
Im trotz’gen Knaben schon der Muth sich bäumt,
Ein deutsches Lied die Mutter singt den Kleinen,
Der blonden Jungfrau blaues Auge träumt –
Hier ist des deutschen Lebens Halt und Mitte,
Im Heiligthum der deutschen Zucht und Sitte.

Das ist die Heimath uns’rer stolzen Siege,
Die letzte Hoffnung in der höchsten Noth,
Und haben uns’res Glückes keusche Wiege
Die jüngsten Tage frevelhaft bedroht –
Des Schwindels wilde Jagd, die dumpfe Reue,
Es überwand sie die gesunde Kraft;
Bei seiner Arbeit ist das Volk auf’s Neue,
Die ehrlich nur im eig’nen Schweiße schafft,
Und ob die Frucht einst and’re Schnitter mähen,
Der Zukunft Ernte gilt auch unser Säen.

Albert Traeger.
Die zehnte Sprache.
Novelle von Rudolf Gottschall.
(Schluß.)

Es war ein schwüler Sommertag; der Sonnenbrand lag blendend auf den hellen Sandfelsen an der böhmisch-schlesischen Grenze; desto kühler war es in dem Felsenlabyrinth in Weckelsdorf, dem neu entdeckten Naturwunder. Adersbach ist ein Felsengarten, der mehr im französischen Geschmack nach der Schnur gezogen; Weckelsdorf ist ein Felsenpark, in welchem die Felsen oft als Versatzstücke für landschaftliche Decorationen verwendet und in dem Schatten des Waldes zerstreut sind.

Eine Gesellschaft verschiedener Besucher lauschte gerade in den hohen Hallen des Naturdomes zu Weckelsdorf dem Orgelspiel, welches wie in majestätischen Fugen aus den Spalten desselben hervorzuquellen schien. Der Zauber beruhte zwar auf einer künstlichen Täuschung; es war eine Drehorgel, welche an einer Stelle gespielt wurde, von der aus ihre Klänge in das Felsenlabyrinth eindrangen und durch die Akustik der Natur zu prachtvollen orgelartigen Tönen anschwollen, aber die Täuschung war so wirkungsvoll, daß sich keiner der Anwesenden dem Eindruck feierlicher Andacht zu entziehen vermochte.

Darauf hielt der Fremdenführer in dem Naturdom eine Predigt. Die Narrenfeste Altfrankreichs kehren doch immer wieder, wenn auch in veränderter Form; diese Predigt erinnerte an dieselben. Sie begann mit schwunghaften Versen in Mahlmann’schem Styl und endete mit einer Wendung an die Mildthätigkeit des Publicums und einer Berufung auf den Preistarif.

„Corpo del diavolo!“ brummte einer der Anwesenden in seinen Bart; „auch die erhabensten Natureindrücke kann man nicht ungestört genießen; immer mischt sich die täppische Eitelkeit und Behaglichkeit der Menschen hinein. So macht sich auch dieser Fremdenführer aus den Felswänden ein Piedestal, um seine albernen Verse gegen gleich baare Bezahlung herzudeclamiren. Und diese bunte gemischte Gesellschaft mit den rotheingebundenen Reisebüchern in der Hand und den Ausrufungszeichen im Gesicht! Daß man hier nicht allein wandern darf in der erhabenen Einsamkeit dieser Felswüste – man könnte sich hier oft in das Inferno träumen.“

Zornig schlug der Hauptmann mit seinem Stock an einen der Felsenpfeiler, der die Hallen des Naturdomes bilden half, und ließ dann die Gesellschaft, die sich nach dem pflichtmäßigen Genuß dieses cyklopischen Felsentempels wieder an die enge Pforte drängte, an sich vorüberziehen, etwa wie Polyphem die Hammel des Odysseus und mit einer keineswegs menschenfreundlicheren Gesinnung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 865. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_865.jpg&oldid=- (Version vom 18.2.2019)