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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Ein leichter Lufthauch kam von der See herüber und strich durch das blätterlose Geäst der Linde vor der Thür des Hauses. Und der Mann seufzte, und es war, als seufzte auch die Linde. „Ob sie fortgezogen ist?“ fragte er sich und lauschte einen Moment – vielleicht, daß sich etwas rege in dem stillen Häuschen. Alles stumm! Nun stützte er den Arm auf die Fensterbrüstung und legte das müde Haupt in die Hand: „Oder gestorben?“ Die Weihnachtsglocken klangen in seinen Schmerz; sie klangen ganz wie vor Zeiten, und Erinnerung, herb süße Erinnerung, entrückte ihn in die Tage von ehedem. Es dünkte ihn, als lege eine weiche Hand sich mild und kühlend auf seine heiße Stirn; zwei sanfte Arme umschlangen ihn, und „Wilhelm! Wilhelm!“ klang es, wie bittend, von einem lieben Munde – seine Seele wußte nichts mehr von Weh, dann aber, wie er so weiter träumte, fühlte er einen jähen tiefen Stich im Herzen, und es war ihm, als lebte er das Leid von Jahren noch einmal durch; er sah sich hinausgetrieben in entlegene Meere, und er kämpfte mit Stürmen und Gefahren, um den Schmerz zu vergessen, den Natterstich im Herzen, und die Natter – war sein Weib. So stand er sinnend eine Weile; dann auf einmal, wie erwachend, schluchzte er auf: „Ach, und der Knabe! Ihn noch einmal sehen, nur einmal noch – –! Er ist doch mein, mein – –“

„Ob’s wohl wiederkommen wird, Jacob?“ fragte plötzlich eine rauhe Stimme neben ihm, daß er aus seinen Gedanken erschrocken auffuhr.

„Doch wohl!“ antwortete eine andere, und zwei ältere Männer in hohen Stiefeln und Matrosenjacken kamen des Wegs. „Seit sechs Jahren hat man’s an jedem Weihnachtsabend gesehen, Niklas. Wird auch wohl heute nicht ausbleiben.“

„’s ist doch ein seltsam Weib!“ sagte wieder der Erste, „so ein Aufsehen zu machen – und mitten auf dem Eise!“

„Unglück und Armuth macht die Menschen absonderlich, Niklas,“ gab der Andere zurück. „Aber was die Leute auch reden mögen, gut muß sie doch sein, weil sie das Andenken des Todten so beharrlich ehrt, mag sie’s auch närrisch genug anfangen. Meinst Du nicht auch?“

„Meiner Treu! Das mein’ ich auch,“ entgegnete der Gefragte. „Gut trotz aller bösen Nachrede und aller Sonderlichkeit. – Aber sieh’ doch, Jacob!“ sagte er lebhaft und zeigte auf die Eisfläche hinaus, „da ist es schon.“

Auf der schimmernden weißen Decke leuchtete ein gelbes Licht auf, winzig und im Winde flackernd; nun waren es deren zwei, nun drei und mehr und immer mehr, neben einander und über einander, kreisförmig und pyramidenartig sich aufbauend – ein Christbaum auf dem Eise.

„Niklas, da ist sie selbst. Siehst Du sie sich bewegen? Sie hat alle Lichte angezündet. Gieb Acht! nun wird sie gleich niederknieen.“

„Wahrhaftig! ich seh’ sie. Und da ist ja auch der Knabe. Der arme Junge – er steckt die Hände vor Frost tief in die Taschen.“

„Und nun nimmt sie ihn bei der Hand.“

„Ja, und jetzt knieen sie Beide nieder, Jacob.“

„Wer kniet?“ sahen die Sprechenden sich plötzlich angeredet, und der einsame Träumer, der bisher noch immer an den grünen Läden des kleinen Hauses selbstverloren gelehnt hatte, war zu ihnen getreten und fragte tonlos und gleichgültig: „Was treibt das Weib?“

„Sie betet,“ antwortete der Eine.

„Für ihren Mann,“ ergänzte der Andere. „Der ist vor mehr als sieben Jahren, ich weiß nicht in welchem Winkel des Oceans, verschollen und ertrunken. Am Weihnachtsabend – Ihr wißt es ja – stellen wir Christbäume auf die Gräber unserer Todten. Die See ist auch ein großes Grab.“

„Wie heißt das Weib?“ fragte der Fremde weiter. Erlegte die Hand wie ein Dach über die Augen und lugte in die See hinaus.

„Nun, Ihr müßt von weit her sein,“ war die Antwort, „daß Ihr die Thilde nicht kennt.“

„Die Thilde?“

„Freilich, die Thilde – Mathilde Evers.“

Der Adler in der Luft, wenn er am Firmament etwas Unerhörtes sieht, einen riesigen Stern, ein Meteor, schießt erschrocken in die Tiefe – so blitzschnell war der Mann von ihrer Seite. Ueber den Schnee des Weges, über das Gerölle des Strandes hinweg war er fortgestürzt, wie ein Rasender, den flimmernden Lichtern auf dem Eise zu.

„Thilde, meine Thilde, Du betest für mich – Du liebst mich noch.“

Die beiden Männer blickten ihm erstaunt nach.

„Das kann nur Er sein,“ sagten sie und schüttelten verwundert die Köpfe. „Die Todten leben.“ Dann wandten sie sich eilig, um im Dorfe das Wunder zu berichten.

„Wilhelm,“ klang es, indem sie gingen, vom Eise zu ihnen herüber, „Wilhelm, ist es denn möglich? Du lebst.“

Das Dorf war schnell in Alarm. Von den Festtischen hinweg waren sie an den Strand geeilt, und was sie da sahen auf dem glitzernden, schimmernden Eise, das war ein Bild wie ein Märchen: drei Menschen knieeten im Schnee, hell beleuchtet von dem Lichte des Christbaumes. Der Mann hatte die mächtige Gestalt tief in sich zusammengekauert und das Gesicht mit den Händen bedeckt; die Frau schmiegte sich dicht an ihn, und ihr langes blondes Haar flatterte leicht im Winde, der Knabe aber trug das Lockenköpfchen aufgerichtet und hob die gefalteten Hände empor zu den Sternen. Die Drei regten sich nicht. Nun aber kam Leben in die Gruppe; es war, als würde die kleine Lichtpyramide leise in die Höhe gehoben, und jetzt bewegte sie sich fort – die drei Gestalten schritten dem Lande zu. Und als sie nun den Strand betraten und den versammelten Dorfbewohnern sich näherten – wer beschriebe das Schauspiel! Sie gingen Hand in Hand, Beide schweigend, tiefernst und langsamen Schrittes, der Knabe aber trug ihnen das strahlende, leuchtende Bäumlein voran und sang mit heller Kinderstimme dazu:

„O, du selige,
O, du fröhliche,
Gnadenbringende Weihnachtszeit!“

Niemand sprach zu ihnen; nur ein leise staunendes Gemurmel ging durch die Menge. Scheu und ehrfurchtsvoll wich Alles zurück, wie vor etwas Heiligem, Fremdem, dem man nicht zu nahen wagt. Wer wollte auch die Liebe stören, die mit sich selbst versöhnte, in ihrem ersten Wiedererwachen? Weiter schritten die Drei, wie stille, fromme Pilger. Dann – vor dem kleinen Hause – raschelte es über ihnen heimlich durch die Linde; die Hausthür knarrte; das Glöcklein daran klingelte hell, und zwischen den grünen Läden verschwand der schimmernde Christbaum, verschwand der Knabe, verschwanden Mann und Weib. –

Draußen tönten voll und feierlich noch immer die Weihnachtsglocken – drinnen im engen, kleinen Zimmer klang leises Weinen – war es das Weinen der Freude? Ein finsterer, bleicher Mann hielt ein schluchzendes Weib in den Armen, und ihre Thränen rannen ihm in den wüsten, wilden Bart.

„Wilhelm, ich habe Dich wieder,“ flüsterte sie und umschlang ihn leidenschaftlich. „O Gott, was trennte uns so lange?“

Er rang mit sich – die Stimme versagte ihm, und vorwurfsvoll und doch mit unendlicher Liebe ruhte sein Blick auf dem zitternden Weibe. Dann endlich, halb wie der Fluch eines Rächers, kalt und hohl, halb wie die Klage eines Sterbenden, weich und mild, brach es hervor aus seiner Brust:

„Adam Jürß!“

„Was soll der Name?“ fragte sie ruhig, „der Name zu dieser Stunde? Es ist eine längst vergessene Geschichte. Du weißt es ja: ich gab Dir an demselben Tage das Jawort, wo ich ihn abgewiesen, den reichen ränkevollen Schiffsherrn.“

„Ich weiß,“ sagte Wilhelm dumpf, „das ist es nicht.“

Er setzte sich müde auf die ärmliche Bank in der Wandnische, wo sie in früheren Tagen so glücklich gewesen.

„Das ist es nicht,“ wiederholte er finster und zog Thilde zu sich nieder. „Es war heute vor acht Jahren. Ich war Steuermann aus dem 'Nordstern'. Wir lagen im Hafen von Calcutta, bereit nach Rio Janeiro in See zu gehen. Capitain und Matrosen hatten ein deutsches Weihnachtsfest am Bord veranstaltet, ich aber dachte der Heimath, und die Unruhe trieb mich auf die Post. Ich fand zwei Briefe vor, einen von Dir: Du warst gesund und hattest dem Jungen die ersten Höschen gekauft, aber die Noth klopfte an die Thür – meine letzte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_858.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)