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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


haben, als den Besuch des jungen Mädchens. Alles war indeß still, selbst Petrarca raschelte nicht mit seinen Blättern – und doch glaubte der Hauptmann in diesem Augenblicke einen Chor von Unsterblichen auf seinen Bücherbrettern singen zu hören das große Lied der Liebe, das ewige Lied der Dichter, welche Beatrice, Armida, Laura, Julie, Desdemona, Dulcinea von Toboso gefeiert hatten.

Der Hauptmann wies der anmuthigen Besucherin einen Platz auf dem Sopha an und entdeckte erst in diesem Augenblicke zu seiner größten Bestürzung, daß dasselbe jeder Eleganz entbehrte und daß seine anfänglich eselsgraue Grundfarbe durch die Strahlen der Sonne und den Neid der Götter sich in ein ganz unsagbares Etwas verwandelt hatte, für das es in der Farbenlehre kein Capitel gab. Seine Verlegenheit verbarg sich hinter einem so ernsten und feierlichen Ausdrucke der Gesichtszüge, als ob er einem Kriegsgericht präsidire und die Lippen nur öffnen werde, um über den Delinquenten die Kugel zu verhängen.

„Ich komme, Herr Hauptmann, Ihre Güte in Anspruch zu nehmen,“ begann Hulda mit verbindlichem Lächeln.

Der Hauptmann bemühte sich sogleich, dieses Lächeln zu erwidern, doch gelang ihm dies nicht nach Wunsch, denn seine Aufregung war noch so groß, daß sie keine behagliche Freundlichkeit aufkommen ließ. So verfing sich das Lächeln unter den Spitzen seines Schnurrbartes, während auf dem übrigen Gesicht der ernste Ausdruck erwartungsvoller Spannung lag.

„Ich bin, wie Sie vielleicht wissen werden,“ fuhr Hulda mit gleicher Freundlichkeit fort, „seit einiger Zeit Ihre Nachbarin.“

„Ich weiß es, mein Fräulein, und freue mich darüber.“

„Keinesfalls wird diese Freude eine ungetrübte sein, denn ich bereite der ganzen Nachbarschaft eine unwillkommene Störung; doch es ist nicht meine Schuld; der Kampf um’s Dasein –“

„Sie kämpfen ihn mit Noten, ich mit Vocabeln.“

„Ich hörte davon, Herr Hauptmann, und dies ist der Anlaß meines Besuches; ich erfuhr, daß Sie Unterricht in den neuen Sprachen ertheilen, und es ist mein Wunsch, mich im Italienischen zu vervollkommnen. Darf ich fragen, ob ich in dieser Sprache bei Ihnen Stunde nehmen kann?“

„Ich bin sehr gern bereit dazu,“ erwiderte der Hauptmann. „Das Italienische ist meine Lieblingssprache; ihr melodischer Klang, der poetische Duft, der schon den Wortlaut selbst umschwebt – –“

„Auch ich kenne ihre Elemente; es ist ja die Kunstsprache der Musik. Sie sind glücklich, Herr Hauptmann, so viele Sprachen zu kennen und zu sprechen; wie reich wird Geist und Leben dadurch! Ich meine, man zieht mit jeder Sprache einen neuen Menschen an, oder mindestens klingt eine neue Saite der Menschheit in unsere Seele hinein. Dumpfe Engherzigkeit besteht nicht neben so weitverbreiteter Kenntniß; diese muß die Seele befreien.“

„Sie haben Recht, mein Fräulein! Wer nur seine Muttersprache kennt, wird leicht beschränkten Sinnes.“

„Wie bereue ich,“ sagte Hulda, sich die blonden Haare, die unter dem leichten Strohhütchen auf die Stirn gefallen waren, zurückstreichend, „Ihre ernsten Studien durch meine leichtfertigen Fingerübungen so oft gestört zu haben! Welch ein Gedächtniß verlangt solche Sprachenkunde, und das Gedächtniß verlangt Ruhe und Stille. Sie zürnen mir doch nicht, Herr Hauptmann, wegen meines Clavierspiels?“

„Keineswegs,“ erwiderte dieser, „Sie spielen ja so vollendet; ich höre Ihnen oft andächtig zu.“

Das Gespräch drehte sich dann um die Lectionen; man bestimmte Zahl und Zeit, und der Hauptmann freute sich im voraus des öfteren Zusammenseins mit dem anmuthigen Mädchen. Hulda erhob sich, musterte die Bibliothek und gab ihrer Freude über die vielen schönen Bücher lebhaften Ausdruck; sie hüpfte von einem Schranke zum andern. „Wie viele unsterbliche Namen, wie viele große Geister aller Völker sind hier in Ihrem Banne! Lauter zugekorkte Flaschen! Ei, wenn das Alles einmal die Pfropfen sprengte und herausschäumte, es müßte Ihnen unheimlich zu Muthe werden.“ „Sie meinen, wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht zu bannen vermag?“

„Nein, wie dem Zaubermeister, der vor der Fülle der Geister erschrickt, der sie aber dann beherrscht und es versteht, wie ein Geist zum andern Geiste spricht.“

Mit freundlichem Lächeln empfahl sich nach diesen Worten die neue Schülerin, vom Hauptmanne bis an die Treppe geleitet, während Skarnikatis, nicht ohne mit schweren Stiefeln einmal ihr Flügelkleid am unteren Saume festgehalten und in den Nähten gelockert zu haben, ihr das Geleite bis an die Hausthür gab.

Der Hauptmann aber schüttete, in sein Zimmer zurückgekehrt, den Fidibusbecher mit den Papierschnitzeln des Inferno aus und füllte ihn bald darauf mit Fidibussen, auf denen die Vocabeln des Paradiso prangten. –

Hulda war eine fleißige und gelehrige Schülerin; sie hatte Gedächtniß, Verstand, Sinn für das Schöne. Der Hauptmann weihte sie in manche verborgene Schönheiten der italienischen Dichter ein; er zergliederte ihr das Dante’sche Riesengedicht mit Hülfe großer Zeichnungen, die er früher entworfen hatte. Es gab da manche Stellen, über welche seine Erläuterung flüchtig hinweggleiten mußte; bei anderen dagegen verweilte er mit Vorliebe. Als er aber die hinreißend schönen Terzinen las, in denen der Dichter das Mißgeschick der anmuthigen Francesca von Rimini und ihres Geliebten besingt, da war es ihm, als ob ihm selbst erst das Verständniß dieser Worte aufginge. Saß Hulda nicht da, so anmuthig in das Lesen vertieft, wie jene Francesca, mit so gespanntem Antheil, ohne jeden Argwohn? Gab es hier einen schöneren Commentar, als einen „dritten“ Kuß, der für Dante das geworden wäre, was jener zweite für Galeotto wurde? Ein vermessener Gedanken; der Hauptmann wagte ihn nicht auszudenken; doch es schien ihm, als ob sie ahnungsvoll seine stumme Kühnheit fühlte. Eine flammende Röthe bedeckte auf einmal ihre Züge, und sie stockte beim Lesen. Sie hatten schon manchen kecken Liebeshandel Ariosto’s ohne Anstoß gelesen – warum setzte sie die Taubenliebe der Francesca so in Verlegenheit? Das Lesen war doch kein Verbrechen, auch nicht das Lesen, dem der Liebesgott über die Schultern sieht. Doch sie fühlte das Gleichartige heraus, und daß sie es fühlte, erweckte auf einmal in der Brust des Hauptmanns Hoffnungen, die sich nur schüchtern an’s Licht wagten. Wäre es möglich? Erwiderte sie eine Neigung, die sich bei ihm von Tag zu Tage entschiedener ankündigte?

Und warum sollte er an seinem Glücke verzweifeln? Der Spiegel, den er jetzt bisweilen befragte, theilte ihm mit, daß er noch Eroberungen machen könne. Seine Züge waren ernst, doch frisch; kein einziger vorlauter Silberfaden blickte aus seinem dunklen Haar; seine Augen hatten ein feurig Leuchten; seine Gestalt war fest, männlich und edel. Er hatte sich nie darum gekümmert; es war ihm, als entdeckte er jetzt zum ersten Mal sich selbst, wie er als lebendes Wesen von Fleisch und Blut in der Welt der Erscheinungen wandle.

Seitdem sie den fünften Gesang des Dante’schen Inferno durchstudirt, änderte Hulda ihr Benehmen gegen den Hauptmann in auffälliger Weise. Hatte sie ihm sonst von ihrem Balcon freundlich zugenickt, wenn sie ihn am Fenster erblickte, so zog sie sich jetzt mit scheuem Gruß zurück, wenn er sich zeigte; dagegen glaubte er zu bemerken, daß sie oft, versteckt hinter der Epheulaube des einen Fensters und, wie sie meinte, unbeachtet, auf ihn mit großen Augen hinüberschaute, unbeweglich, still, wie man auf ein Wunder schaut, sodaß ihm oft vor sich selbst unheimlich wurde; denn er hatte nie etwas Merkwürdiges an sich entdeckt und begriff nicht, daß er irgend einem Wesen in der Welt beachtenswerth oder gar bedeutend vorkommen könnte. Nach jener Lectüre hatte Hulda mehrfach die Stunden ausgesetzt, unter dem Vorgeben des Unwohlseins, und als sie wieder erschien, da konnte sie ihre Befangenheit, ihr Herzklopfen nicht verbergen, denn aus ihrem ganzen Wesen, selbst aus den zögernden Blicken, mit denen sie ihn jetzt ansah, merkte er, daß er ihr nicht gleichgültig war.

Bald sollte er sich noch mehr davon überzeugen. Eines Tages erschien noch eine andere junge Dame bei ihm, mit der Bitte, ihr englische Stunden geben zu wollen. Ihre Eltern lebten an dem Orte in bescheidenen Verhältnissen, wie er erfuhr; ihr Vater war ein pensionirter Beamter, dessen Lebensfreuden sich auf eine Whistpartie im Casino beschränkten; sie selbst war längere Zeit auswärts gewesen. Gabriele – den Taufnamen verrieth ihre Visitenkarte – war in jeder Hinsicht der Gegensatz zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_836.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)