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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


einen Gefährten, der ebenfalls in die Lage versetzt worden, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, der dem Wechsel der Situation aber weniger Befriedigung abgewinnen zu können schien. Der Chef hatte ihm einen vier Seiten langen französischen Brief, der aufgefangen worden, zu sofortigem Abschreiben gegeben. Ich bestieg den Kutschbock, nahm den Chiffre und meinen Bleistift und machte mich an’s Entziffern, während die Schlacht jenseits unserer Höhe wie ein halb Dutzend Gewitter brüllte. Im Eifer, rasch fertig zu werden, wurde ich dabei nicht einmal gewahr, daß die stechende Sonne der Mittagsstunde mir das eine Ohr mit Brandblasen bedeckte. Das erste übersetzte Telegramm sandte ich dem Minister durch Engel, der auch etwas sehen sollte, hinauf; die nächsten beiden überbrachte ich ihm selbst, da – sehr nach dem Geschmacke meiner Schaulust – auf die drei letzten mein Chiffre nicht paßte. Es war dabei vermuthlich nicht viel verloren; denn der Chef meinte, sie würden wohl nur Empfangsbescheinigungen sein.

Es war ein Uhr geworden. Unsere Feuerlinie umfaßte jetzt die größere Hälfte der feindlichen Stellung auf dem Höhenzuge jenseits der Stadt; in weitem Bogen stiegen Wolken von Pulverdampf auf und erschienen die bekannten weißen Nebelkugeln der Shrapnels, nur links war noch eine stille Lücke. Der Minister saß jetzt auf einem Stuhle und studirte ein mehrere Bogen starkes Actenstück. Ich fragte, ob er etwas zu essen oder zu trinken wünsche, wir wären damit versehen. Er lehnte ab: „Ich möchte wohl, aber der König hat auch nichts.“

Die Gegner drüben über dem Flusse mußten sich nun sehr nahe sein; denn man vernahm häufiger als vorher die häßliche Stimme der Mitrailleusen. Zwischen zwei und drei Uhr ging der König nahe an mir vorbei und sagte, nachdem er eine Weile nach der Vorstadt hingeblickt, zu seiner Umgebung: „Sie schieben da links große Massen vor – ich halte das für einen Durchbruch.“ Kurz darauf sah man durch das Glas französische Reiterei auf dem Hügelkamm links vom Walde aus der Schlucht mehrere Angriffe machen, nach denen besonders bei einem auch mit bloßem Auge sichtbaren halbmondförmigen Wege der Boden mit weißen Gegenständen, Pferden oder Mänteln, bedeckt war. Bald nachher wurde das Artilleriefeuer auf allen Punkten schwächer. Die Franzosen, seit einiger Zeit auch von links her eingeschlossen, wo die Württemberger, die nicht weit von unserem Berge ein paar Batterien aufgestellt hatten, und, wie es hieß, das fünfte und elfte Armeecorps heranzogen, gingen überall nach der Stadt zurück. Nach halb fünf Uhr schwieg ihr Geschütz allenthalben, und etwas später verstummte auch das unsere.

Noch einmal wurde die Scene lebendiger. Plötzlich erheben sich erst an einer, dann an einer zweiten Stelle in der Stadt große weißlichblaue Wolken, zum Zeichen, daß es brennt. Auch Bazeilles steht noch in Flammen und schickt hinter dem Horizonte zur Rechten eine Säule dicken gelblichen Qualms in die klare Abendluft empor. Das warme Licht des Spätnachmittags beginnt, immer intensiver werdend, das Thal drunten zu verklären und zu vergolden. Die Hügel des Schlachtfeldes, die Schlucht in deren Mitte, die Dörfer, die Häuser und Thürme der Festung, die Vorstadt Torcy, die zerstörte Brücke heben sich in der Gluth plastisch ab und werden mit ihren Einzelnheiten von Minute zu Minute deutlicher, wie wenn man schärfere und immer schärfere Brillen vornähme. Gegen fünf Uhr spricht General Hindersin mit dem Könige, und ich glaube zu hören, daß er von „Stadt beschießen“ und „Trümmerhaufen“ redet. Eine halbe Stunde später sprengt ein baierischer Officier den Berg heran: General von Bothmer läßt dem Könige sagen, der General Maillinger melde, daß er mit den Jägern in Torcy stehe, daß die Franzosen capituliren wollen und daß man unbedingte Uebergabe verlangt habe. Der König erwidert: „Niemand kann über diese Sache unterhandeln als ich selbst. Sagen Sie dem General, daß der Parlamentär zu mir kommen müsse.“

Der Baier reitet wieder ab in’s Thal. Der König spricht hierauf mit Bismarck, dann Gruppe der Beiden mit dem Kronprinzen, der gegen vier Uhr von links heraufgekommen, Moltke und Roon. Die Hoheiten von Weimar und Coburg stehen etwas abseits auch dabei. Nach einer Weile erscheint ein preußischer Adjutant und berichtet, daß unsere Verluste, soweit bis jetzt zu übersehen, nicht groß sind, bei der Garde mäßig, bei den Sachsen etwas stärker, bei den übrigen Corps geringer. Nur kleine Abtheilungen der Franzosen sind nach den Wäldern an der belgischen Grenze entkommen, die man nach ihnen absucht. Alle Uebrigen sind nach Sedan hineingedrängt. „Und der Kaiser?“ fragt der König.

„Das weiß man nicht, Majestät!“ antwortet der Officier. Bald nach sechs Uhr aber erscheint wieder ein Adjutant und meldet, der Kaiser sei in der Stadt und werde sogleich einen Parlamentär herausschicken. „Das ist doch ein schöner Erfolg,“ sagt der König, sich nach seiner Umgebung umwendend. „Und ich danke Dir (zum Kronprinzen), daß auch Du dazu beigetragen hast.“

Damit gab er dem Sohne die Hand, die dieser küßte. Dann reichte er sie Moltke, der sie ebenfalls küßte. Zuletzt gab er auch dem Kanzler die Hand und unterhielt sich darauf längere Zeit allein mit ihm – was einigen der Hoheiten Unbehagen zu verursachen schien.

Um halb sieben Uhr kommt, nachdem mittlerweile eine Ehrenwache von Kürassieren zur Seite erschienen, der französische General Reille als Parlamentär Napoleon’s den Berg heraufgeritten. Zehn Schritte vor dem Könige steigt er ab und geht auf ihn zu, nimmt die Mütze ab und übergiebt ihm einen großen rothgesiegelten Brief. Der General ist ein ältlicher, mittelgroßer, hagerer Herr in schwarzem, offenem Rocke mit Achselschnur und Epauletten, schwarzer Weste, rothen Hosen und lackirten Steifstiefeln. Er trägt keinen Degen, in der Hand aber ein Spazierstöckchen. Alle treten von dem Könige zurück, der das Schreiben öffnet und liest und hierauf den (jetzt bekannten) Inhalt Bismarck, Moltke, dem Kronprinzen und den übrigen Herrschaften mittheilt. Reille steht noch etwas weiter unten vor ihm, erst allein, dann im Gespräche mit preußischen Generalen. Auch der Kronprinz, Moltke und die Coburger Hoheit unterhalten sich mit ihm, während der König sich mit dem Kanzler beräth, der dann Hatzfeldt beauftragt, die Antwort auf den kaiserlichen Brief zu entwerfen. Nach einer Weile bringt er sie, und der König schreibt sie auf’s Reine, indem er auf einem Stuhle sitzt und den Sitz eines zweiten Stuhles, den Major von Alten, sich vor ihm auf ein Knie niederlassend, auf das andere Knie gehoben hat, als Tisch benutzt. Kurz nach sieben Uhr reitet der Franzose in Begleitung eines Officiers und eines Ulanentrompeters mit weißer Fahne durch die Dämmerung nach Sedan zurück. Die Stadt brennt jetzt an drei Stellen, und auch in Bazeilles scheint nach der rothangestrahlten Rauchsäule, die über ihm steht, die Feuersbrunst fortzudauern. Im Uebrigen hat die Tragödie von Sedan ausgespielt, und die Nacht läßt den Vorhang fallen. Der König geht wieder nach Vendresse. Der Chef, Graf Bismarck-Bohlen und ich fahren nach dem Städtchen Donchery, wo wir bei völliger Dunkelheit ankommen und im Hause eines Doctor Jeanjot Quartier finden. Der Grund, weshalb wir hierher gekommen sind, ist ein Arrangement, nach welchem der Kanzler mit Moltke hier französische Bevollmächtigte treffen soll, mit welchen man sich über die Bedingungen der Capitulation des in Sedan eingeschlossenen Heeres zu verständigen suchen wird.

Ich schlief hier in einem kleinen Alkoven neben dem Hinterzimmer der ersten Etage Wand an Wand mit dem Kanzler, welcher die große Vorderstube inne hatte. Früh gegen sechs Uhr weckten mich hastige Tritte. Ich hörte, daß Engel sagte: „Excellenz, Excellenz, es ist ein französischer General vor der Thür; ich verstehe nicht, was er will.“ Darauf scheint der Minister rasch aufgestanden zu sein und aus dem Fenster mit dem Franzosen – es war wieder General Reille – kurz verhandelt zu haben. Die Folge war, daß er sich hastig anzog, sich, wie er gestern gekommen, ohne zu frühstücken, zu Pferde setzte und eilig davon ritt. Ich eilte in sein Zimmer und an’s Fenster, um zu sehen, in welcher Richtung er sich entfernte. Alles war hier in Unordnung umhergeworfen, am Boden lagen die „Täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeinde für 1870“, unter dem Nachttischchen ein anderes Erbauungsbuch: „Die tägliche Erquickung für gläubige Christen“ – Schriften, in denen der Kanzler, wie Engel sagte, des Nachts zu lesen pflegte. Eilig fuhr ich nun ebenfalls in die Kleider, und nachdem ich unten gehört, daß der Graf nach Sedan zu geritten, um dem Kaiser Napoleon, der sich aus der Festung entfernt, entgegenzugehen, folgte ich ihm, so rasch ich vermochte. Etwa achthundert Schritt von der Maasbrücke bei Donchery steht rechts

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 826. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_826.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)