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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


den ihr ein gütiges Geschick für die Wanderung durch's Leben heimlich in die Hand gegeben hatte, berührte alle Herzen sanft und schmeichelnd. Ihre bedeutenden Geistesfähigkeiten, ihre Talente entfalteten sich bei der weitern sorgfältigen Ausbildung in glänzendster Weise. Das völlig Sorgenfreie und Schattenlose ihrer neuen Existenz, sowie auch das von Marianne niemals unterschätzte Glück: „die Lage und Zukunft ihrer Mutter durch ihren gütigen Wohlthäter so vollkommen gesichert zu wissen“, steigerten den Frohsinn ihres Herzens und jene heitere Lebendigkeit, die der ureigenste Kern ihrer frischen, gesunden Natur war.

Daß die poesievolle und reizende Umgebung der Gerbermühle, in welche Marianne nun versetzt war, nur anregend und fördernd auf ihre dichterische Begabung wirken konnte, unterliegt für den keinem Zweifel, der diese Stätte am Main nur flüchtig sah. Die Gerbermühle ist unstreitig einer der schönsten Punkte bei Frankfurt. Nirgend wenigstens zeigt sich der Mainstrom so vortheilhaft. Der tiefe Einschnitt eines von Schilf und alten knorrigen Weiden umsäumten Bogens, unweit vom Hause, das dicht am Ufer aufsteigt, verleiht dem Flusse dort etwas von der majestätischen Weite eines Sees, und die wechselnde Beleuchtung, die Wolken und Farben des Horizonts, überflutheten Wogen und Wellen mit einem unsagbaren, ewig neuen Reiz. In imposantem Bilde erhebt sich jenseits des farbenleuchtenden Wasserspiegels die Stadt, im Vordergrunde überragt vom alten Kaiserdome und der breiten Kuppel der Paulskirche, über der das goldene Kreuz am Thurm als weithin strahlendes Wahrzeichen schimmert. Die Berge des Taunus und an sie sich anschließend der duftig blaue Höhenzug des Rheingaus begrenzen in weitem köstlichem Rahmen die Landschaft, die an der Uferstätte der Mühle von blühender Feld- und Wiesenflur, von dem dichten, dunklen Saume des Isenburger und Frankfurter Waldes umschlossen wird.

Der Zauber dieser Lage soll Herrn von Willemer hauptsächlich bewogen haben, die Gerbermühle und deren Garten zu miethen. In seinem Besitze aber, wie dies so häufig gesagt und selbst geschrieben wurde, ist sie niemals gewesen. Sie gehört zu einem Erblehn, gehört seit Jahrhunderten und bis zur Stunde dazu, und davon ist nicht ein Fuß breit Scholle Land verkäuflich, außer demjenigen, das der Staat zu Eisenbahnzwecken, durch Expropriationsverfahren an sich bringt.

Der Strahlenberger Hof selbst war ebenfalls nie von Herrn von Willemer gemiethet; er war noch Jahre nach seinem Tode in Erbpacht und in Händen einer ihm fern stehenden Familie.

Zeitig im Frühjahr pflegte Herr von Willemer schon auf die Mühle zu kommen und sie auch meist erst im Spätherbst zu verlassen. Wie Frau Scharf uns sagte, verlebten sie oft noch das Weihnachtsfest draußen, denn aller Kinder größter Jubel und Mariannens Lieblingsfeier am Heiligenabend war, wenn Willemer eine Tannengruppe am Einfahrtstor, nahe dem Hause, mit vielen Lämpchen erhellen ließ und wenn die also geschmückten Bäume mit ihren oft schneeumhangenen Zweigen so hell und golddurchfunkelt aus dem schneeumlagerten Garten aufstiegen und licht die dunkle Christnacht durchstrahlten; dann standen die Kinder alle, und Marianne im Vordergrunde, an den geöffneten Fenstern des Gartensaals und sangen das alte Weihnachtslied: „Stille Nacht, heil'ge Nacht“. – Und an dieser reizenden Feier pflegte die Bevölkerung von Oberrad lebhaftesten Antheil zu nehmen. In dichten Gruppen stand sie auf der Landstraße. Waren die Töne verhallt, die Lichter erloschen, so entfernte sie sich mit einem „Hoch“ auf Willemer und sein Haus.

Marianne theilte die Vorliebe der Familie für die Gerbermühle. Sie begrüßte das alte Haus im Frühlinge mit immer neuem Liede, und rief bei der Abfahrt solchen Scheidegruß ihm zu. Niemand weiß, wo sie geblieben, all diese Dichtungen. Denen, die sie gekannt und von ihr erzählt haben, war nur erinnerlich, daß Marianne die gebundene Form der Sprache ebenso zu Gebote stand, wie die Macht des Gesanges, die ja selbst Goethe berauschte.

Am 26. September 1814, nachdem Willemer's letzte und jüngste Tochter schon fünf Jahre verheirathet war, vermählte er sich erst mit Marianne. Wie man hört, wollte er kein Egoist sein; er wollte ihr Zeit lassen, ihr eigenes Herz, sowie die Männer zu prüfen, die ihr huldigend nahten. An Gelegenheit zu Bekanntschaften fehlte es ihr nicht. Das Willemer'sche Stadthaus, wie auch die Gerbermühle waren der Mittelpunkt des geistigen Lebens und jedem Fremden von Bedeutung ebenso gastlich geöffnet, wie den einheimischen Freunden und Bekannten. – Clemens Brentano, mit seiner genialen Schwester Bettina häufig ein Gast Willemer's, erscheint flüchtig als einer der Verehrer, die mit den Huldigungen ernste Absicht auf Mariannens Hand verbanden. Nach Meinung Einzelner war seine Familie gegen die Heirath; nach Andern hielt Marianne nie sein Gefühl für ein tieferes, noch erwiderte sie dasselbe. Ihr Ideal war ihr Wohlthäter geblieben, in dem sie stets mehr einen Gott, als einen Menschen gesehen.

Ein besonders angelegter und bedeutender Charakter war Herr von Willemer jedenfalls und dazu äußerlich bevorzugt. In seiner Erscheinung lag etwas sehr Vornehmes; auch rühmt man ihm ein feines, formenvollendetes Wesen und Auftreten nach, wie auch, daß Güte des Herzens mit seiner hohen Bildung Hand in Hand gingen.

Das beste Zeugniß für seinen innern Werth ist wohl die Freundschaft, die Goethe ihm durch's ganze Leben und bis zum Tode bewahrte. Von seinem Edelmuthe zeugt eine selten große That, die er vollbrachte: Sein einziger Sohn, den er leidenschaftlich liebte, wurde, kaum zum Jüngling herangereift, im Duell erschossen. Als der tieferschütterte Vater hörte, jener bereits gefänglich eingezogene Gegner seines Sohnes sei auch ein einziges Kind seiner Eltern, reiste er nach Berlin. In persönlicher Audienz flehte er den König von Preußen um Gnade an für den, der ihn des Sohnes beraubt, und das Außergewöhnliche dieser Bitte bewog den Monarchen, sie zu erfüllen.

Willemer zählte vierundfünfzig Jahre, Marianne war neunundzwanzig alt, als sie sich 1814 vermählten. Man sagt, sie sei noch im vollen Besitz des Zaubers holder Lieblichkeit und Anmuth gewesen, als sie heiratete. Ihre Schönheit gipfelte in großen, tiefdunkeln Augen, einem warmen Colorit und in jenem wechselnden Ausdruck der Züge, der ihr zart gebildetes Antlitz so unaussprechlich anziehend machte.

Ein Jahr nach ihrer Verheirathung lernte Goethe sie kennen. Er war auf der Gerbermühle vom 12. August bis 8. September 1815. Dann übersiedelte er in das Willemer'sche Stadthaus in Frankfurt. Dort blieb er bis zum 19. des Monats und kam von da aus noch einige Male zur „schönen Müllerin“ auf die Mühle.

Sulpiz Boisserée, zu der Zeit auch wiederholt ein Gast des Willemer'schen Hauses, schreibt in seinem Werke, das auch seine Tagebücher enthält, in oft sehr ausführlicher Weise, wie man Goethe gefeiert und geehrt. – In dem „Briefwechsel von Goethe und Marianne von Willemer“ finden sich ebenfalls reiche Erinnerungen an die Wochen, die ihre Freundschaft besiegelten. Im Buche „Suleika“ des „West-Oestlichen Divans“ begegnen uns auch die Anklänge an die Gerbermühle. Sogar den vielen dort reifenden Kastanien ist ein Denkmal gesetzt wie auch dem „alten Canale am Ende der 'Hauptalleen'“. Er heißt der Grenzgraben und die junge Marianne nannte ihn nach einer Geographiestunde die „Bidassoa“.

Nahe dieser Grenze stand noch bis vor Jahren die Laube, die ihr Lieblingsplatz gewesen und die uns stets als „Mariannens Ruhe“ bezeichnet worden ist. Man genießt von dem Platze aus nicht nur jenen schönen Blick auf Frankfurt und den Taunus, sondern auch zur Rechten kann das Auge ebenso weit schweifen, hin bis zum lichtblauen Zuge des Alzenauer Freigerichts, den Vorbergen des Spessart, die jene fernen Weiten des Mainthales umgrenzen.

Die Zweige des Weißdorns, welche diese Laube bildeten, waren zu förmlichen Stämmen angewachsen und dicht bemoost. Es ging ihr wie so mancher historischen Erinnerung: dem Unverstande zum Opfer zu fallen. Ein Oberräder, der nicht das mindeste Recht an die Stelle besaß, hatte sie eines Tages abgesägt. –

Die innere Einrichtung der Gerbermühle zur Willemer'schen Zeit gab uns Frau Scharf genau an. So weit sie auf Goethe und Suleika Bezug hat, gebe ich sie hier zur Erläuterung der Illustration wieder. Das Bild veranschaulicht die Südseite des Hauses, die nach dem Garten mündet, hinter dem sich jetzt die Offenbacher Localbahn und die Bebraer Eisenbahn hinzieht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_807.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)