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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


an; „ich bin kein Freund vom Heirathen in so jugendlichem Alter. Wie alt sind Sie?“

„Einundvierzig Jahr,“ stotterte Dreher.

„Das wäre, meinte der Schulrath, „das Alter, wo Sie allenfalls ans Heirathen denken könnten. So aber ist durch das frühe Heirathen und den Besitz eigener Kinder nun schon alles Interesse von der Erziehung fremder Kinder abgelenkt; die arme Gemeinde wirft das theure Geld für den untauglich gewordenen Schulmeister zum Fenster hinaus, und der saure Schweiß des Bauern wird in allerhand Flitterstaat und Leckereien für Frau und Kinder des Schulmeisters vergeudet.“

Dreher war blaß geworden; all’ der Flitterstaat und die Leckereien, die er seiner besseren Hälfte und seinen Sprößlingen, wenn sie ihn in der Stadt aus den glänzenden Schaufenstern so verlockend anlachten, so gern gekauft hätte, wenn nicht sein spärliches Einkommen, von dem er nach der Ansicht des Schulraths so große Ersparnisse machen sollte, ein gebieterisches Veto eingelegt hätte, tanzten vor seinen Augen; der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und um denselben abzutrocknen, zog er sein Sacktuch aus der Tasche, der bei dieser Gelegenheit eine große Schnupftabakstose entrollte.

„Ich glaube gar, Sie schnupfen,“ zeterte der Schulrath. „Einen unverkennbaren Tabaksgeruch habe ich bereits beim Eintritt in dieses Haus wahrgenommen. Rauchen Sie, schnupfen Sie?“

„Nur ab und zu ein Mal,“ hauchte Dreher, der vollständig in sein Nichts zurückgeschleudert war.

„Also um einem Dorfschulmeister,“ so donnerte der Schulrath, „Gaumen und Nase zu kitzeln, müssen in der tropischen Hitze von Cuba und Havanna Tausende von Sclaven auf den Tabaksfeldern ihre Gesundheit zu Grabe tragen! Herr, denken Sie an die ewige Gerechtigkeit?“

Dem armen Dreher fingen die Sinne an zu schwinden; er hatte nie geahnt, welch kolossaler Sünder er sei, und er seufzte aus tiefinnerster Brust: „Ich habe nie Cuba oder Havanna, sondern immer nur bescheidentlich Uckermärker oder Pfälzer, das Dutzend zu Zweiundeinhalb, geraucht.“

„Beschönigen Sie Ihre Laster nicht!“ herrschte ihn der Schulrath an. „Es ist leicht und angenehm, der fleißigen Bauern saueren Verdienst zu verprassen und ihnen dafür nichts als blauen Dunst vorzumachen. Ich werde auf Ihre Führung für die Folge ein besonders wachsames Auge richten.“

Eine Antwort schwebte auf Dreher’s Lippen, aber ein donnerndes: „Haben Sie Etwas einzuwenden?“ des Schulraths und ein leises: „Um Gottes willen, schweigen Sie! Der Schulrath kennt sich nicht in seinem Zorn,“ Rößler’s verdammten ihn zum Schweigen.

„Womit beschäftigten Sie sich, als ich eintrat?“ fuhr der Schulrath etwas ruhiger fort, indem er in das Schulzimmer trat.

„Mit Singen,“ antwortete Dreher.

„Was können die Kinder singen?“

„‚Guter Mond, du gehst so stille.‘“

„Warum nicht: ‚Goldne Abendsonne‘?“

„Ich wollte es nächstens einüben.“

„Man sieht, richtiges Verständniß chronologischer Reihenfolge fehlt Ihnen gänzlich. Die Abendsonne kommt vor dem goldenen Monde und mußte auch vor diesem eingeübt werden. Singen: ‚ungenügend‘. Verstanden?“

„Zu Befehl, Herr Schulrath!“

„Nun zum Rechnen! Rechnen ist die größte Kunst und Wissenschaft des Lebens, die nur wenige Menschen verstehen, namentlich Sie nicht, lieber Dreher, wie Sie vorhin bereits bewiesen haben.“ Dreher nickte verständnißinnig. „Wer auf der Stufenleiter der Addition und Multiplication vermöge logarithmischer Gleichungen bis in die höchsten Potenzen der Geometrie, Trigonometrie und Algebra eingedrungen ist, dem erscheint alles andere menschliche Wissen ein proportionirter und kubischer mathematischer Unsinn.“

Das schien unserm Freund Dreher vollständig einzuleuchten; er nickte noch immer beifällig und blickte bewundernd auf den Schulrath, dessen Lippen soeben diese enorme Weisheit entquollen war.

„Was ist richtig,“ wandte sich der Schulrath an die Kinder. „Sieben und vier ist elf, oder sieben und vier sind elf?“

Lange Pause; Niemand meldet sich zur Antwort.

„Nun, lieber Dreher, was meinen Sie zu diesem wichtigsten Lehrsatz des Pythagoras?“

„Ich meine,“ erwiderte der vollständig perplexe Dreher, „daß es wohl richtig heißen dürfte: sieben und vier macht elf.“

„Bravo!“ rief der Schulrath. „Nun ein zweites Exempel. Ein Vater stirbt und hinterläßt sechs Söhne; jeder derselben hat eine Schwester. Zu vertheilen sind 14,000 Thaler. Wie viel kommt auf jedes Kind?“

Die möglichsten und unmöglichsten Antworten erfolgten, die alle den Schulrath nicht befriedigten; derselbe wandte sich nun mit seiner Frage an Dreher, der indessen die ausweichende Antwort gab, man müsse da seiner Ansicht nach doch zunächst wohl genau wissen, ob der Vater das Geld baar oder in rumänischen Eisenbahnactien hinterlassen habe, da in letzterem Falle eine Differenz nicht ausgeschlossen sei.

Diese Antwort befriedigte den Schulrath weniger. Vergeblich versuchte er dem armen Dreher die Möglichkeit klar zu machen, daß sechs Brüder nur eine Schwester zu haben brauchten, welche die Schwester jedes Einzelnen unter ihnen sei. Dreher berief sich auf die unumstößliche Thatsache, daß aus seiner Ehe vier Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen, entsprossen seien und daß er denselben niemals 14,000 Thaler hinterlassen werde.

Das stimmte denn endlich den harten Schulrath weich. Er ließ sich sogar so weit herab, die Dienstwohnung und die Familie des Schulmeisters in Augenschein und ein Gläschen vom Besten, den des Schulmeisterleins Keller bot, anzunehmen, und als der herzhafte Labetrunk erst die Zunge gelöst hatte, da legte er die lästige Maske ab. „Alter College,“ sagte er, „sehen Sie mich ’mal genau an! Sehe ich aus wie ein bärbeißiger Schulrath?“ Dreher riß bei der jovialen Anrede die Augen noch weiter auf als früher und beim vollen Glase, bei Schwarzbrod und frischer Butter, Wurst und Käse und anderen Delicatessen wurde demnächst die neue Bekanntschaft besiegelt, bis der einbrechende Abend zur Heimkehr mahnte. – – – – – – Aber die Rache schläft nicht. Walter Rößler hatte bereits vor mehreren Tagen von seinen Angehörigen herzlichen Abschied genommen und war nach S., dem Orte seiner Anstellung, zurückgereist; da klingelte durch die holprige Dorfstraße von Bergen lustig ein Schlitten, welchem vor dem Schulgebäude ein älterer Herr mit strenger Amtsmiene entstieg. Es war der Schulrath Bartsch aus R., der Rößler’s Schule zu revidiren gekommen war.

Die Revision hatte einen befriedigenden Verlauf genommen; der Schulrath drückte herablassend dem Schulmeister die Hand, indem er belobigend äußerte: „Ich bin außerordentlich zufrieden mit den Leitungen Ihrer Schule und werde mich bemühen, Ihnen eine staatliche Anerkennung auszuwirken. Und nun, lieber Rößler, schließen Sie für heut die Schule und begleiten Sie mich zu Ihrem Collegen Dreher nach Hammer, dessen Schule ich noch revidiren möchte! Ich bin schon tagelang nicht vom Schlitten heruntergekommen und möchte deshalb, da die Sonne so verlockend lacht, die kurze Strecke zu Fuß zurücklegen, fürchte jedoch, ohne Ihre freundliche Begleitung den Weg zu verfehlen.“

Ein jäher Schreck durchzuckte den armen Rößler; was dann, wenn Dreher, wie zu befürchten stand, die beabsichtigte Revision in Zusammenhang mit dem neulichen Ulk brachte? Er schützte Leibweh, Geschäfte, kranke Kuh und Gott weiß was noch Alles vor; er malte dem Schulrath den Weg in den gräßlichsten Farben und rieth ihm, ja zu Schlitten und ohne ihn zu fahren – es half Alles nichts; der Schulrath beharrte bei seiner Bitte, die selbstverständlich dem armen, belobigten Rößler endlich Befehl sein mußte. Mit schwerem Herzen nahm er den Mantel um und Hut und Stock zur Hand; einsilbig marschirte er neben dem Schulrath her und zerbrach sich den Kopf, wie er sich wohl am schicklichsten aus der Affaire ziehen könne. Sein Auge umflorte sich, als der sonst so ersehnte Kirchthurm von Hammer vor seinen Augen auftauchte, und als sie am Friedhofe vorübergingen, da wünschte er sich zehn Fuß tief unter die Erdoberfläche, dahin, wo kein Schulrath mehr das arme Dorfschulmeisterlein revidiren und beunruhigen kann. Und endlich standen sie, so langsam Rößler auch ging, vor dem Schulhause, in dessen Thür soeben mit freudestrahlendem Gesicht College Dreher erschien. Rößler

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_783.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)