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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Sie nahm seinen ihr dargebotenen Arm mit einen Lächeln an, das ihn ihre Grausamkeit vergessen ließ. Mit Selbstgefühl führte er sie den Weg entlang; das andere Paar folgte. Auf Hanna’s Gesicht hatte während dieses Gespräches ein sonniges Lächeln geschwebt, und allerlei Gedanken bewegten sich in ihrem Köpfchen. Wäre es möglich, sollte der Onkel wirklich ein ernstes Interesse für seine hübsche, anmuthige Nachbarin fühlen – derselbe Onkel, dessen kurze, barsche Briefe ihn ihr als einen Weiberfeind, einen Brummbär hatten erscheinen lassen?

Als man den Lindenplatz im Garten erreicht hatte, war im Westen die Sonne bereits versunken. Aber der Widerschein ihrer Gluthen färbte die weißen Wölkchen, die hoch oben im tiefen Blau dahinsegelten, mit rosigem Lichte. Auf dem höchsten Zweige eines Tulpenbaumes saß ein Vögelchen und sang der Sonne ein Jubellied nach, und hoch über der Erde schossen noch einige Schwalben in Zickzacklinien hin und her, als könnten sie sich nicht losreißen von so viel Glanz und Schönheit, als wollten sie die Freuden des wonnigen Tages bis auf den letzten Tropfen auskosten.

Hanna’s Leben war bisher so ruhig und eintönig verflossen, sie hatte so wenig gesellige Freuden kennen gelernt, daß Alles, was ihr hier geboten wurde, für sie ein neuer, ungekannter Genuß war. Mariens heitere Laune regte auch sie an. Muntere Scherzworte flogen herüber und hinüber, und wenn auch zuweilen Hanna’s Augen sich hinter ihrer dunklen Wimper verbargen und sie unter dem ernsten, ausdrucksvollen Blicke, der auf ihr ruhte, sich plötzlich von einer wunderbaren, zugleich süßen und doch bangen Befangenheit ergriffen fühlte, welche sie oft verstummen machte, so war doch durch Mariens belebte Unterhaltung dafür gesorgt, daß keine Pause im Tischgespräche entstand. Als man sich in bester Laune erhob, war selbst der letzte Schimmer des Tageslichtes schon lange verschwunden, und über die Bäume war der Mond heraufgekommen und lugte durch das Geäste, silberne Lichter über Rasen und Weg streuend. Kayser, der kein Freund von Abendkühle und Thau war, mahnte zur Rückkehr in’s Haus, und Max, der hoffte, Hanna noch einmal singen zu hören, stimmte lebhaft bei.

„Ich möchte Sie wohl um Rath fragen, Fräulein Marie,“ sagte Kayser, als man wieder in den von mildem Lampenlichte erhellten Saal getreten war, „denn ich wüßte in der That Niemand, von dem ich mir so gern wie von Ihnen rathen ließe. Sie sagten mir, daß die Kleine ein großes Musikgenie sei – nicht wahr? Ich halte es daher für meine Pflicht, ihr jede Gelegenheit zur Ausbildung dieses Talentes zu gewähren. Sie soll, da sie jetzt länger bei mir bleiben wird, einen Flügel haben. Bitte, was meinen Sie – Erard oder Bechstein?“

„Herr Kayser, ich muß mich höchlich über Ihre Inconsequenz wundern.“

„Wundern Sie sich immerhin, aber antworten Sie mir: Erard oder Bechstein?“

„Ich weiß nicht – beide Arten gelten für gleich gut.“

„Ich habe es mir aber in den Kopf gesetzt, daß Sie darüber bestimmen sollen.“

„Fragen Sie doch Ihre Nichte, Herr Kayser!“

„Setzen wir den Fall, Sie hätten für sich zu wählen – Erard oder Bechstein?“

„Nun denn: Bechstein!“ sagte Marie lachend.

„Abgemacht – aber ich bin noch nicht zu Ende. Sehen Sie, es wird kaum anders angehen – da doch die Kleine bei mir ist – ich muß hin und wieder Damenbesuch bei mir sehen.“

„Ich fürchte, Sie werden ‚die Kleine‘ so verwöhnen, Herr Kayser, daß ihr die Pension hernach etwas unschmackhaft erscheinen wird.“

„Vielleicht läßt es sich einrichten, daß sie bei mir bleibt, wenigstens so lange, bis sich eine gute Versorgung für sie findet. Allerdings müßte dann in meinem Haushalte eine Veränderung getroffen werden. Denn Hanna ist noch zu jung, um selbstständig die Hausfrau zu spielen.“

Er heftete bei diesen Worten seine Augen unter seinen buschigen Brauen hervor so scharf auf seine Gesellschafterin, daß der geheime Sinn, welchen er mit dieser Andeutung verband, auch einem unbefangeneren Zuhörer, als Marie es war, nicht unverständlich hätte bleiben können. Sie aber hielt den Blick tapfer aus – sie hatte nicht die Absicht, sich durch das Gefühl der Dankbarkeit auch nur zum geringsten Entgegenkommen bewegen zu lassen. Ihr Frauenstolz sträubte sich gegen den Gedanken, daß ihr reicher Nachbar durch den ihr und ihrem jüngeren Bruder geleisteten Dienst sich vielleicht zu Ansprüchen an sie und ihre Person könnte berechtigt fühlen, oder daß er doch wenigstens auf Grund dieses Dienstes eine schnelle Gewährung nach einer mühelosen Werbung voraussetzen könnte.

„Glauben Sie doch das nicht!“ entgegnete sie daher unverändert freundlich und heiter, „viele Mädchen heirathen schon mit achtzehn Jahren und werden gute und umsichtige Hausfrauen. Ich prophezeie Ihnen, daß Ihre Nichte Ihren Haushalt zu Ihrer höchsten Zufriedenheit führen wird. Man merkt es ihr leicht an, daß sie trotz ihrer Jugend an Pflichttreue gewöhnt ist.“

„Aber sie ist zu jung und unerfahren,“ sagte er ungeduldig.

„Das ist ein Fehler,“ antwortete sie, „der mit jedem Tage mehr verschwindet. Uebrigens werde ich ihr gern mit Rath und That zur Seite stehen, wenn ihr und Ihnen dadurch ein Dienst geschieht.“

„Nun, das ist Etwas, wenn auch noch sehr wenig,“ entgegnete er wieder etwas freundlicher gestimmt. „Und das Erste, wofür ich Ihrer Rath in Anspruch nehmen möchte, wäre die Einrichtung einiger Zimmer, für die ich frische Tapeten und neue Möbel anzuschaffen gedenke. Ich werde Sie jetzt hoffentlich auch einmal bei mir sehen – dann sprechen wir wohl ausführlicher darüber.“

„Sehr gern, obgleich Ihre Nichte das ebenso gut könnte.“

„Lassen Sie mich mit der Kleinen in Ruhe! Sie ist ein Kind, mir ist aber nur ein Urtheil einer Frau zu thun.“

„Gut,“ sagte Marie lachend. „Nun aber bitte ich, Platz zu nehmen, Herr Kayser, denn ich gedenke ‚die Kleine‘, die übrigens genau so groß ist wie ich, noch um einige Lieder zu bitten. – Liebe Hanna! Sie wissen, was wir über deutsche Volksmelodien gesprochen haben, werden wir heute noch einige hören?“

Die Angeredete wandte sich schnell, wie plötzlich aufgeschreckt, um. Wären Marie und Kayser weniger mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen, dann hätten sie bemerken müssen, daß sich auf Hanna’s Gesicht eine tiefe Bewegung spiegelte. Mit gesenktem Haupte ging das junge Mädchen zum Flügel. Aber Max hatte den Platz an demselben schnell eingenommen, in vollen Accorden präludirend, um ihr und sich selbst Zeit zu gewähren, sich zu fassen. Er mußte sich gestehen, daß die Unterbrechung zur rechten Zeit gekommen war, denn deutlicher, als er es bei ruhigem Blute billigen konnte, hatte er den Eindruck gezeigt, den sie auf ihn ausgeübt. Er machte sich bittere Vorwürfe darüber; denn durfte er daran denken, die Zukunft eines jungen, für Freude und Glück geschaffenen Wesens an sein sorgenvolles Leben zu knüpfen? Hatte er ein Recht, seinem Herzen zu folgen? Besitzt in dieser Welt des socialen Elends dieses Recht nicht nur ein reicher Mann? Er durfte nicht an Liebe, er mußte nur an Pflichten denken, und in diesem Falle war seine Pflicht identisch mit: Geld! Ein heftiger Sturm ging durch sein Gemüth, und die Töne, welche er dem Instrumente entlockte, gaben Kunde davon. Einige Schritte von ihm entfernt stand Hanna, mechanisch in den Notenbüchern blätternd. Ihre Hand bebte noch von dem Kusse, den er darauf gedrückt, und noch fühlte sie das geschwinde Zittern ihres Herzens, verursacht durch seinen Blick, seine Worte und den Ton seiner Stimme.

Während Marie und Kayser am jenseitigen Ende des Zimmers eine lebhafte Conversation geführt, hatte zwischen Hanna und Max eine Zeitlang ein Stillschweigen geherrscht, wie es oftmals da stattfindet, wo das lebhaft erregte Gefühl sich nicht schnell in die ruhige conventionelle Form zu finden weiß. Das junge Mädchen war an einen Tisch getreten und hatte sich über die Bücher und Bilderwerke, welche darauf lagen, gebeugt. Er hatte neben ihr gestanden, mit den Augen der Bewegung der schlanken Finger folgend, die schneller, als ein kunstverständiger Beobachter es gebilligt hätte, die Blätter des Albums umschlugen. Von der Hand war sein Blick emporgestiegen zu dem holden Gesichte und war auf den gesenkten Lidern und der dunklen Wimper haften geblieben. Da hatte sie plötzlich voll und groß den Blick zu ihm aufgeschlagen und auf den Kupferstich in ihrer Hand gewiesen.

„Ehrenbreitstein –“ sie hatte nicht weiter sprechen können;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_763.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)