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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Ah, Riom, der Schreiber, Ihr wollet sprechen? Recht so! Nur ohne Umschweif, ohne Hintergedanken, von der Leber weg!“ – „Der Kerl,“ murrte er, sich setzend, Verno in's Ohr, „hat zwanzig Ducaten von mir in der Tasche.“

Riom, der Schreiber, ein blasses Männchen mit pfiffigem Gesicht und großem Munde, dem das Flachshaar wohlgescheitelt und gewellt um den Nacken hing, räusperte sich und nahm mit einer gewissen Salbung seiner schnarrenden Stimme, daß man nicht wußte, wollte er Befangenheit unterdrücken oder war es sarkastisch gemeint, also das Wort:

„Hochwerthe Herren und fürstliche Gnaden! Wir Schreiber von der Zunft, 'Ghesellen van Rhetorike' und von der edlen Dichtgenossenschaft, schreiben und sprechen, wie ihr Alle wisset, sonder Ansehn der Person nur für den Ruhm der lauteren Wahrheit. Ich, von der Gesellschaft der 'Fonteneisten', der Wohlredenden und Wohlerzogenen, schlage an meine Brust und behaupte kühnlich: wir brauchen einen Regenten, und so dieser im Felde stehet, einen Stellvertreter für ihn, und ich meine, wir haben nicht weit zu suchen nach dem Stellvertreter, wenn ich auch, um nicht als Lobhudler zu erscheinen, seinen Namen jetzt nicht nenne – denn 'nomina sunt odiosa', sagt der Lateiner. ... Ich habe gesprochen.“

Ein Gemurmel des Beifalls lief durch die Reihen, als der kleine Mann, nicht ohne einen selbstbewußten Blick auf den Herzog zu werfen, sich niederließ.

„Gut angelegte Ducaten!“ murmelte Cleve.

„Ein feiner Kopf!“ sagte ein ehrbarer Handwerksmeister bewundernd zu seinem Nachbarn. Der Nachbar nickte.

Cleve war eben im Begriff, sich zu erheben, als ihm der Vicepräsident zuvorkam.

„Mit Verlaub, Herr Herzog,“ nahm er das Wort, „es ist da ein Ausdruck gefallen, den zu gebrauchen Euch selber nicht beliebte, weil Euch ohne Zweifel bekannt ist, daß bei uns kein fremder Herr, und sei es der Gemahl der Herzogin, 'regieren', also auch nicht 'Regent' sein kann.“

Einen so groben Strich durch die Rechnung schien der Herzog nicht erwartet zu haben. Leidenschaftlich schnellte er empor.

„Ein fremder Herr? Und sei es der Gemahl der Herzogin?“ rief er mit zornfunkelndem Blicke. „Ihr meinet also meinen Sohn, meinet mich. Herr Präsident, Ihr beleidiget mich. Machte es mich hier zum Fremden, daß ich ein deutsches Fürstenthum besitze, so müßte es mich auch in Deutschland zum Fremden machen, daß ich Brabanter Bürger bin. Aber gelten Euch denn Dienste und Verdienste nichts? Gilt Euch Aufopferung für das Gemeinwohl minder, als der Wohnort? – Ihr lieben Brüder, theure Freunde – ihr Alle, Abgeordnete, wie Volk von Gent, euch rufe ich an: Ich, euer Mitbürger, euer Freund in der Noth, ich ... euch ein Fremder?“ Und wie den Himmel zum Zeugen solchen Frevels anrufend, hob er die Rechte empor.

„Ein Schuft, ein Lügner, der das sagt!“ dröhnte die Stimme Nikol's, der sein Scepter schwang. Eine unbeschreibliche Scene folgte.

„Schlagt ihn todt! Schlagt ihn todt!“ brüllte das Gesindel, und wie auf Commando starrte der Säulengang plötzlich von Knitteln, Keulen, kurzen Spießen, welche die bisher sorgsam hinter dem Rücken gehaltenen Arme plötzlich in der Luft schwangen. Erschrocken fuhren die nächstsitzenden Abgeordneten von ihren Sesseln zurück. Unwillkürlich rückte der Vicepräsident vor den auf ihn Andrängenden näher an den Herzog.

„Herr Herzog!“ stieß er halb vorwurfsvoll, halb entsetzt heraus. Schützend streckte dieser seine Hand über den Bedrohten, und, wie selbst betroffen über die Wirkung seines Appells, rief er ein lautes:

„Halt, Freunde, halt!“

„Heil dem Herzog von Cleve! Heil dem Regenten!“ brüllte Nikol, sogleich ablenkend, und „Heil dem Herzog, Heil dem Regenten!“ hallte es hundertfach wieder.

„Ein recht leutseliger Herr!“ redete der Holländer kalt ironisch den Papageifarbenen an.

„Recht niederträchtig! gab der Papageifarbene zitternd und mit unzweideutiger Betonung der letzten Sylben zurück.

„Wir sind verrathen und verkauft,“ flüsterte ein Anderer seinem Nachbarn zu.

„Gott schütze Niederland!“ seufzte der Nachbar.

Cleve aber hatte seine ganze Beherrschung wieder gewonnen. Die gewaltsame Machtenfaltung, die er sich für den Augenblick der Noth aufgespart, hatte ihre Wirkung gethan. Jetzt galt es die Einschüchterung der Gemüther ohne Säumen zu benutzen. Er winkte mit der Hand. Stille trat ein.

„Nein, ihr lieben Leute,“ redete er mit den weichsten Tönen seines Organs das Volk an, „so war es nicht gemeinet. Sparet euren tapferen Muth, bis uns wirkliche Feinde bedrohen. – Nur daß ich kein Fremder, solltet ihr mir bezeugen, und ich danke euch für den energischen Protest, den ihr dagegen eingelegt. Was aber das Wort 'Regent' betrifft, so ist es eben nur ein Wort, das nichts zur Sache thut. Denn die Befugnisse sind die Sache, und sie sind dort niedergeschrieben. Schreibet doch auch dieses alsbald hinzu, ihr Herren Notare, damit wir auch den letzten Argwohn zerstreuen mögen – und ihr, werthe Abgeordnete, wollet nunmehr zur Wahl schreiten, nach dem einfachen Modus, den ihr bei den Berathungen über eure Privilegien adoptiret habet! ... Hat Jemand einen Vorschlag zu machen?“

Riom erhob sich.

„In Anbetracht meiner ... rein sachlichen Gründe schlage ich den Herrn Herzog von Cleve zum – zum – mit einem Worte: zum Regenten vor.“

Man hätte ein Sandkorn zur Erde fallen hören können, so tief und peinlich war die Stille.

„Hat Jemand noch einen anderen Vorschlag zu machen?“ fragte Cleve.

Ein verdächtiges Rasseln in den Reihen des Pöbels – sonst tiefe Stille.

„So erübrigt mir nur, über den Antrag des ehrenwerthen Riom nach dem Modus der Staatenkammer abstimmen zu lassen. Wer gegen die Wahl des besagten Herzogs von Cleve zum Regenten stimmt, wolle sich erheben!“

Das Messer war den armen Opfern des von ihnen selbst gegen das Regiment ihrer Herrin erfundenen „Modus“ an die Kehle gesetzt. Mit langen Hälsen starrten vom Säulengange her hundert Späheraugen, Mordlust im Blick, auf jede ihre Bewegungen. Sich erheben, hieß dem Tode in's Auge sehen, sitzen bleiben, sich unter das Joch zu beugen. Aber wie stets die Scheu, etwas zu lassen, überwogen wird von der Scheu, etwas zu thun, so auch hier. Nur der Vicepräsident erhob sich sofort, verließ seinen Sessel und schritt mit Würde, nicht aber ohne die Schritte um ein Merkliches zu verlängern, hinter dem Sessel des Präsidenten herum auf der geschützten Seite den Abgeordneten zu. Der behäbigere Bürgermeister hinter ihm kämpfte noch mit sich, erhob sich, schielte ängstlich zur Seite und entzog sich fluchtartig und nicht ohne Schaden für seine Würde der Gefahr. Auch von den Abgeordneten rückte einer und der andere auf seinem Sessel; zumal der Papageifarbene reckte sich, wie ein halbflügger Vogel über den Rand seines Nestes, flugbereit von seinem Sitze empor, aber drohendes Gemurmel unter den Säulen mit dem Zornruf: „Auf die Plätze! Auf die Plätze!“ genügte, um ihn, wie die Andern auf die Sitze zurückzuschrecken, und als Präsident und Bürgermeister in ihre Nähe kamen, fanden sie Niemanden auf ihrer Seite, als die Holländer, welche, unbeirrt durch Drohung oder Zuruf, ohne eine Miene zu verziehen, mit stoischem Gleichmuth ihre Sessel verlassen hatten. Verächtlich sah ihnen Cleve nach und dann einen triumphirenden Blick über die Versammlung werfend, rief er, die Rechte erhebend:

„Sehet es Alle, und bekundet es, ihr Notare! Die Staaten haben entschieden. Ich bin Regent.“

„Es lebe der Regent!“ erklang die Posaunenstimme Nikol's.

„Es lebe der Regent!“ brüllte der Pöbel ihm nach, daß die Wände zitterten und der Schall, zurückgeworfen, wie Donnerrollen durch den Hofraum wiederhallte.

„Wer rettet uns aus dieser Noth?“ seufzte der Präsident, als er den Holländern die Hände schüttelte.

Dämmerung war angebrochen. Die Notare hatten Mühe, die Beurkundung zu Papier zu bringen. Auf ein Zeichen des Herzogs erhob sich Verno, öffnete die Thür und winkte. Herzogliche Diener, die schon des Zeichens kundig, erschienen, stellten Pechfackeln in die eisernen Ringe an den Pfeilern und zündeten mit brennenden Luntenstäbchen die Ampeln an, so daß in wenig Augenblicken ein Lichtmeer vom düstersten Roth, von

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