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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


nichtsdestoweniger meine Pflicht an dem Kinde meines Bruders zu thun. Ich habe daher den Brief der Institutsvorsteherin – denn auch von der ist ein langes Schreiben eingelaufen, mit der angenehmen Nachricht, daß ein mehrwöchiger Landaufenthalt für den Gesundheitszustand meiner Nichte dringend nothwendig sei – dahin beantwortet, daß sie mir das Kind herschicken soll. Ich hoffe, an meinem Tische wird sie besser zu Fleisch kommen, als bei der gelehrten Pensionskost.“

„Und welche weiteren Absichten haben Sie dann mit Ihrer Nichte?“ fragte Marie.

„Natürlich soll sie zum Herbst in die Pension zurück. Unter Fremden will ich sie in einer dienenden Stellung nicht leben lassen, und sie bei mir zu behalten, das möchte mir auf die Länge unbequem fallen.“

„Ihr vielleicht nicht weniger,“ meinte Marie. „Sie würde sich nach einer nutzbringenden Thätigkeit sehnen. Ein zweck- und berufsloses Leben, und sei es das bequemste, kann auf die Länge Niemand befriedigen.“

„Befriedigen? Natürlich wird es sie nicht befriedigen – aber kann ich es ändern? Es sei denn, daß ich ihr einen Mann schaffte. Denn ich für mein Theil kenne nur einen Beruf, wozu die Natur die Frau bestimmt, nämlich den, zu heirathen und Kinder groß zu ziehen. Verfehlt sie diesen, so muß sie sich unter allen Umständen unbefriedigt und unnütz fühlen.“

Wieder wallte in Marie eine zornige Regung auf, und wieder hob sie das Haupt mit einer zugleich stolzen und anmuthigen Bewegung des schlanken Halses. Als sie aber zu ihrem Gaste hinüberschaute und seinem Auge begegnete, das mit listigem, erwartungsvollem Funkeln zu ihr aufschaute, da kämpfte sie ihren Unwillen nieder.

„Ich begebe mich des Streitens mit Ihnen, mein Herr,“ sagte sie mit ruhiger Würde, „und das um so mehr, als es für mich durchaus kein Interesse hat, ob ich Sie in Ihren Ansichten corrigire oder nicht.“

Sie hatte ihre Mahlzeit beendet und erhob sich vom Tische. „Wollen die Herren mich entschuldigen?“ fuhr sie fort, sich der Thür zuwendend. „Ich lasse an meinen neuen Beeten arbeiten und fürchte, daß man meine Anordnungen nicht befolgt.“

Als sie im Hinausgehen mit flüchtigem Blicke den Gast streifte, nahm sie wahr, daß er sich in seinem Stuhl zurücklehnte mit der behaglichen Miene eines Mannes, der mit seinem Tagewerke zufrieden ist. Und als sie die Stufen hinabschritt, da hörte sie mit wiedererwachendem Zorne, wie er ihre Flucht vom Kampfplatze mit einem hämischen Kichern begleitete.




3.

Als Maria nach einiger Zeit wieder in das Haus zurückkehrte, hatte sich der Gast bereits entfernt. Der Gartensaal war leer, aber sie hörte die Schritte ihres Bruders im Nebenzimmer und sah ihn durch die halbgeöffnete Thür, wie er, die Hände auf dem Rücken mit gesenktem Kopfe langsam auf und nieder schritt. Von Zeit zu Zeit hielt er in seinem Gange an, um an’s Fenster zu treten und die Landstraße entlang zu blicken, die an Haus und Fabrik vorbei nach dem nahe gelegenen Städtchen Elmsleben führte. Wenn er sich so zum Fenster hinausbeugte, lag auf seinem Gesichte der Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit – es schien, als wären Auge und Ohr gleichermaßen beschäftigt, einen erwarteten Gegenstand zu erspähen. Auch kam es dem Mädchen vor, als ob, so oft er seinen monotonen Gang durch’s Zimmer wieder aufnahm, die Sorgenfalte auf seiner Stirn tiefer wurde. Sie wußte, daß ihr Bruder von dem Augenblicke an, wo er die Fabrik übernommen, schwere Sorgen hatte. Der District, in welchem dieselbe lag, bildete erst seit Kurzem einen Theil der deutschen Reichslande. Die Bevölkerung hatte noch nicht Zeit gehabt, sich in diese neue Ordnung der Dinge zu finden. Sie sträubte sich, dieselbe als vollendete Thatsache anzuerkennen und suchte durch eine bis auf’s Aeußerste getriebene oppositionelle Haltung gegen die neue Regierung ihre Mißstimmung an den Tag zu legen. Eine gleich feindselige Stellung nahm man gegen Diejenigen an, die sich in dem neuen Reichslande niedergelassen hatten, und namentlich waren es unter diesen die Preußen, die mit erbittertem Hasse verfolgt wurden.

Max Reinhard hatte wie mancher Andere sich dadurch nicht abschrecken lassen. Er hatte eine der vielen Fabriken gekauft, deren Besitzer, um nicht in Berührung mit den verhaßten Behörden zu kommen, es vorgezogen hatten, ihr Geschäft niederzulegen. Seit dieser Zeit war sein Leben ein beständiger Kampf gegen die Widersetzlichkeit seiner Arbeiter gewesen, welche stets neue Nahrung erhielt durch die ablehnende, fast feindselige Haltung, die auch die höheren Gesellschaftsclassen dem „fremden Eindringling“ gegenüber annahmen. Auch Marie hatte in dieser Beziehung manche unangenehme Erfahrung gemacht. Ueberall war sie auf Kälte und Mißtrauen gestoßen, sodaß sie das Suchen nach einem passenden Umgange bald aufgegeben hatte. Allerdings war dies ihr geringster Kummer. Ihre Hauptsorge bildete stets die Angelegenheit ihres Bruders.

Zwar war es nicht seine Gewohnheit über seine Sorgen zu sprechen, allein sie ahnte es dennoch, daß auch bei ihm, wie schon anderwärts, die Unruhen und Unzufriedenheiten unter den Arbeitern endlich zu offener Widersetzlichkeit ausarten würden. Sie hatte Kunde erhalten, daß in einigen Fabriken des Districts, die gleichfalls in die Hände von Deutschen übergegangen waren, die Arbeiten hatten eingestellt werden müssen, weil die Besitzer die an sie gestellten Forderungen nicht hatten erfüllen können. Die ganze Umgegend war in Schrecken gesetzt durch die Nachricht, daß im benachbarten Wildunger Bezirke die große Kattunfabrik des Herrn Bergentin – gleichfalls eines Deutschen – zerstört und auf ihn in seinem eigenen Hause durch das Fenster seines Arbeitszimmers geschossen worden sei. – Alle diese beängstigenden Thatsachen drängten sich Mariens Geist auf, als sie zögernd auf der Schwelle stand. Sie entsann sich nicht, ihren Bruder jemals so finster, so sorgenvoll gesehen zu haben. Bei der strengen Selbstbeherrschung, die er übte, hatte er sich ihr, wenn auch nicht heiter, so doch stets gleichmäßig ruhig und gefaßt gezeigt. Es mußte irgend ein Unheil im Anzuge sein – diese Ueberzeugung stand plötzlich fest in ihr. Und jetzt fiel ihr ein, daß sie mit der Absicht gekommen war, seine Sorge noch zu vergrößern – unwillkürlich fuhr ihre Hand in die Tasche ihres Kleides. Sie fühlte den Brief darin, der ihr heute Thränen des Kummers entlockt hatte. Aber so dringend er auch Hülfe forderte, sie konnte es nicht über das Herz bringen, ihn in diesem Augenblicke ihrem Bruder zu zeigen.

Schwere Schritte, die sich von der anderen Seite dem Zimmer näherten, machten sie aufhorchen. Es war der Aufseher der Fabrik, der nach beendetem Tagewerke die Schlüssel brachte.

„Nun, Kramer?“ fragte Max.

„Alles in Ordnung, Herr. Sie sind ruhig fortgegangen,“ entgegnete der Mann, in welchem man an der Sprache sogleich den Ostpreußen erkannte. „Ich habe die Runde gemacht durch Hof und Garten – nirgends habe ich etwas Verdächtiges entdecken können. Ich meine, Herr, der Drohbrief hat Sie nur einschüchtern sollen, damit Sie leichter auf ihre Forderungen eingehen.“

„Möglich! – Wir wollen indessen nichts versäumen, was die Vorsicht gebeut. Haus und Fabrik scheinen mir heute noch ungefährdet – aber um die neuen Maschinen trage ich Sorge. Ich wünschte, die Wagen wären erst zurück und sicher im Hofe.“

„Es werden zwei tüchtige Wagenladungen sein, und der Weg geht immer bergauf. Jantzen wird die Pferde schonen wollen.“

„Ich sollte meinen, sie können trotz alledem schon hier sein. – Bleibe im Hofe, Kramer, und halte scharf Wacht! Ich will bis zum Damme hinabgehen – vielleicht daß ich sie auf der Straße sehe.“

„Nehmen Sie mich mit, Herr! Es ist sehr nebelig draußen, auch dunkelt es schon stark. Zudem ist der Damm auf beiden Seiten mit Gebüsch bepflanzt. Es können sich ganz wohl ein halb Dutzend Kerle darin verstecken, die Ihnen nahe sind, ehe Sie irgend Etwas wahrgenommen haben.“

„Wir können das Haus nicht ohne Schutz lassen. – Hast Du die Hunde von der Kette gelöst?“

„Ja, Herr, sie sind auf dem Hofe.“

„So nimm einen mit, wenn Du die Runde machst, und entferne Dich nicht zu weit vom Hause!“

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_664.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)