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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


sich hier jedoch sehr bald von dem begonnenen Studium der Theologie abwendig machen, um sich der ihn unwiderstehlich anziehenden Musik mit Leib und Seele für immer hinzugeben. Die damaligen Cantoren der Thomasschule, Schicht und Weinlig, wie die Dirigenten der Gewandhausconcerte, Schulz und Pohlenz, trugen wesentlich zu dieser Bekehrung bei und unterstützten ihn treulich. Die ersteren brachten zahlreiche seiner neuen geistlichen Compositionen in der Kirche zur Aufführung, die letztgenannten förderten durch die Erlaubniß des freien Besuches von Proben und Aufführungen der Concerte wesentlich sein Studium der berühmtesten Tonmeister der verschiedenen Zeiten. Mit Eifer widmete Otto sich zugleich dem Studium der Philosophie und Geschichte; namentlich Prof. Wendt, selbst ein großer Verehrer und Kenner der classischen Tonmeister, belebte und förderte auf’s Eifrigste die Schöpfungskraft des vielseitig begabten Jünglings. In diese Zeit fällt die erste Veröffentlichung eines Trio für Piano, Violine und Violoncello in Es, einer vierhändigen Sonate, von Variationen für Clavier (alle bei Hofmeister in Leipzig erschienen), von drei Liedern für Sopran (bei Breitkopf und Härtel) und einer Ballade: Der Brautkuß (im eigenen Verlage).

Von 1825 an finden wir unsern Julius Otto wieder in Dresden, und zwar bald als angestellten Lehrer für Clavier und Gesang an dem berühmten Blochmann’schen Erziehungsinstitute. In richtiger Würdigung seiner Befähigung ward Otto schon im Jahre 1828 vom Dresdener Stadtrathe anfangs interimistisch und Ostern 1830 definitiv zum Cantor und Musikdirector der Dresdener drei evangelischen Hauptkirchen berufen, welche Stelle er volle fünfundvierzig Jahre bekleidete. Wie hohe Verdienste er sich um die von ihm geleitete Kirchenmusik und den Gesang der Kreuzschüler erworben, dafür zeugen seine Gemeinde und seine Schüler zu Hunderten. In diesem langen Zeitraume schuf Otto neben seiner anstrengenden amtlichen Thätigkeit eine Fülle der trefflichsten Compositionen, deren vollständige Aufzählung den uns hier gegönnten Raum weit überschreiten würde. Sein Name ward bald weit und breit genannt und bekannt, seine Schöpfungen im Gebiete des Männergesanges flogen über Länder und Meere, und wo irgend in fernsten Erdtheilen deutsche Männer aufeinander trafen, da fanden und verbanden sie sich in den echt deutschen Harmonien von Julius Otto’s volkstümlichen Gesängen. Das in den „Gesellenfahrten“ (Dichtung seines früh verstorbenen Sohnes Julius) enthaltene Lied „Das treue deutsche Herz“ zählt nicht ohnerachtet, sondern vielleicht gerade um seines deutschsentimentalen Grundzuges willen zu den populärsten deutschen Volksgesängen.

Von seinen Compositionen für Männergesang mit Orchester fanden die weiteste Verbreitung seine Cyklen mit verbindender Deklamation: „Der Sängersaal“ (Gedicht von Marlow), „Burschenfahrten“, die schon erwähnten „Gesellenfahrten“, „Soldatenleben“ und „Spinnabend“ (sämmtlich Dichtungen seines Sohnes Julius) und der melodienreiche „Liedertafel-Jahrestag“ (Dichtung von Fr. Hofmann), welchen aus Otto’s Feder eine köstliche „Tischrede“ schmückt. Ebenfalls viel gesungen wurden „Im Walde“ (von Gärtner), „Am Meeresstrande“ (von Klopsch), „Das Märchen vom Faß“ (von Waldow), sowie die humoristisch-satirischen Opern „Die Mordgrundbruck“, „Die Liedertafel in China“, „In Schilda“, „Nach Nürnberg“. Für ein Lied „In die Ferne“ für eine Stimme und Pianoforte (gedichtet von Kletke) erhielt Otto den vom Mannheimer Musikverein ausgeschriebenen Preis von neun Ducaten; im Jahre 1846 setzte die Gesellschaft Harmonie in Trarbach an der Mosel ein Fuder (gleich vierzehn Eimer) des feinsten Moselweines als Preis für die beste Composition eines Liedes zum Lobe der Mosel aus. Julius Otto, Vater und Sohn, gingen für Composition und Dichtung dieses Moselliedes als Sieger hervor. Methfessel beglückwünschte Beide mit folgendem Distichon:

„Kaum hat sich Vater und Sohn zum Preise der Mosel verbunden,
Rollt auch der heilige Geist donnernd im Fasse herbei.“

„Von diesem Fasse Wein,“ so schreibt einer seiner Schüler und Verehrer in Dresden dem Verfasser dieser Zeilen, „mußte Jeder trinken, der zu ihm kam, und ich hatte sogar das Vergnügen, dasselbe im Keller mit abziehen zu helfen, besinne mich auch noch, daß er vorher mir und seinem Sohne Arwed etwas Oel zu trinken gab, damit wir nicht so schnell grau würden.“ In demselben Brief wird „Otto’s Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit bei Prüfung angemeldeter Chorschüler, besonders wenn es solche schüchterne Dorfjungen waren, wie ich,“ mit dem weiteren Bemerken rühmend hervorgehoben: „Wenn er Einen so freundlich ansprach, bekam man Courage und sang das Vorgelegte frisch herunter. Wen er einmal geprüft und als zuverlässig befunden, in den setzte er unbedingtes Vertrauen, das nicht so leicht zu erschüttern war. Auch seine Schüler sah er gern heiter und vergnügt, und bei vorkommenden Festlichkeiten, Ausflügen und dergleichen erheiterte es ihn selbst zumeist, wenn die Jungens etwas über den Strang schlugen.“

Fassen wir seine Compositionsthätigkeit zusammen, so war sie hauptsächlich fruchtbar für die Kirche, für den Männer- und den Kindergesang. Wir erinnern an seine drei Charfreitags-Oratorien (der Sieg des Heilands, die Feier der Erlösten, des Heilands letzte Worte), eine Missa in F, Kyrie und Sanctus in Es, Kyrie und Gloria in D, drei Oster-Cantaten, zwei Pfingst- und drei Weihnachts-Cantaten, zwei Cantaten zum Todtenfest und zwei zum Reformationsfest, sämmtlich für gemischten Chor mit Orchester; ferner an sein Oratorium Hiob (Dichtung von Julius Mosen), gleich vielen andern geistlichen und weltlichen, zum Theil oben bereits genannten Compositionen theils für Männerstimmen mit Orchester, theils für gemischten Chor ohne Orchester. Für die Kinderwelt schuf er die Kinderfeste („Das Schulfest“, „Das Weihnachtsfest“, „Das Pfingstfest“, „Das Vaterlandsfest“, sämmtlich Dichtungen von Friedrich Hofmann), auf Anregung seines Verlegers Conrad Glaser in Schleusingen. Diese „Kinderfeste“ haben schon weit über anderthalbtausend Aufführungen erlebt und unsern Julius Otto zum Liebling auch der deutschen Jugend erhoben. Außerdem sind seine „zwölf leichte vierhändige Rondos für Clavier“ noch den besten instructiven Clavierstücken für Kinder beizuzählen. Mit der Composition „Frühlingslandschaft“ (bekannt unter dem Titel „Der lange Magister“) gewann Otto 1852 beim Düsseldorfer Musikfest den Preis. Ueber das Schicksal zweier Opern: „Das Schloß am Rhein“ und „Der Schlosser von Augsburg“ können wir nichts berichten, da Otto in seinen Aufzeichnungen, auf welchen unsere Mittheilungen hauptsächlich beruhen, derselben nicht besonders erwähnt. Seine letzten Compositionen vom December 1876 sind: „Das weiße Kreuz im rothen Feld“ für die Schweizer Turner und „Röslein“ für den Regensburger Liederkranz; nach Ordnen seines musikalischen Nachlasses wird sich gewiß noch manches hübsche Lied für Männergesangvereine finden.

Otto schuf mit staunenswerther Schnelligkeit und hatte nicht die Eitelkeit, jede seiner Schöpfungen durch den Druck zu veröffentlichen. Große Thätigkeit entwickelte er bei Gründung des deutschen Sängerbundes in Coburg im Jahre 1862; bis zum Jahre 1874 blieb er Mitglied des Ausschusses dieses 30,000 Sänger umfassenden Bundes. An der Herausgabe der ersten drei Hefte des Liederbuches für den deutschen Sängerbund hat Otto den hervorragendsten Antheil genommen. Einen schönen Triumph erlebte er noch 1874 beim zweiten Bundessängerfeste in München, wo seine Composition „Dornröschen Straßburg“ (gedichtet von Gärtner) mit ungetheiltem Beifall aufgenommen wurde.

In seinem Familienleben blieben ihm schwere Schicksale nicht erspart; vier geliebte Gattinnen, mit deren jeder er, wie er selbst schreibt, sehr glücklich gelebt, sowie zehn Kinder gingen ihm im Tode voran, darunter der in der Sängerwelt beliebte Dichter Julius Otto, im Alter von vierundzwanzig Jahren (geb. am elften Juli 1825, gest. am fünften November 1849), und der ebenfalls sehr begabte achtzehnjährige Sohn Arwed. Seine fünfte Gattin und sein trefflicher Stiefsohn Dr. med. Karl Thieme, jetzt auf Reisen in Rom und Neapel, sind seine einzigen Hinterlassenen.

Die allgemeine Anerkennung, Dankbarkeit und Liebe der gesammten Sängerwelt in Deutschland, Rußland, in der Schweiz, in Amerika und Australien hatte dafür gesorgt, daß er in seinem Studirzimmer, umgeben von mehr als sechszig Ehrendiplomen, die wie Trophäen von den Wänden blickten, wie ein König in seinem Reiche thronen konnte, ohne Scepter zwar, aber mit der Feder in der Hand, bis zum letzten Athemzuge begeistert für alles Schöne und jeden Fortschritt im Gebiete der Tonkunst mit regem Interesse verfolgend. Lichtpunkte seines Alters waren der 8. November 1874 und der 30. December 1875.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_568.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)