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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


bekommen haben. Die Räuber haben es uns doch gewiß nicht gegeben!“

„Ist auch unerklärlich für mich,“ sagte Janos nachdenklich mit gesenktem Kopfe. „Hatte doch selbst genommen Glas, rothes, aus Laterne –“ plötzlich erhebt er den Kopf strahlend: „Nein, Pane Oberconducteur, gnädigster – ist Wunder – ist Wunder – hat Mutter Gottes – Allergnädigste – erhört Gebet meiniges in Todesnoth und hat gegeben selbst Haltsignal rothes, mit Laterne weißer!“ –

„Schnickschnack, alberner,“ sagt der Oberconducteur halb lachend, halb ärgerlich[WS 1], „untersuchen wir die Sache! Kommt Janos, zunächst in die Wachstube.“ Die Männer treten ein. Das Kind sitzt erschrocken auf dem Tische vor der Lampe; als Janos eintritt, läßt es entsetzt die rothe Glasscheibe, die es in den Händchen hielt, fallen und streckt weinend die Arme Janos entgegen.

„Nicht böse sein, Papa! nicht schlagen, Licht so schön roth, hier – draußen – überall. Bitte, bitte, nicht schlagen!“

„Da haben wir ja den kleinen Signalisten,“ ruft der Oberconducteur lachend. „Das kleine Mädel hat durch die Scheibe vor der Lampe geguckt und draußen gab das ein rothes Signal. Janos, Janos, wenn's auch die Mutter Gottes nicht gethan hat, ein Wunder ist wirklich an Euch geschehen. Ohne den kleinen Balg hätten sie Euch doch noch am Ende die Windpfeife zugeschnürt – von der Casse gar nicht zu reden. Die Sache ist aufgeklärt; fahren wir weiter. Ich lasse Euch den Zuggensd'arm hier. Gute Nacht!“

Der Zug rollt von dannen. Janos hält, mit heißen Augen vor sich hinstarrend, das Kind im Arme.

Am andern Tage fährt der Streckeningenieur, auf seiner Dräsine heimkehrend, am Bahnhause Nr. 128 vorbei.

„He, Janos! Guten Morgen; gratulire Euch, daß man Euch noch gratuliren kann. Drinnen auf der Hauptstation hat die Geschichte Alle gerührt; sie schicken Euch heute ein Fäßchen Erlauer. Laßt das Mädel nicht zu viel davon trinken. Ihr seid aber doch kein Narr gewesen, als Ihr das Kind behieltet. Adieu!“




Charlotte Venloo.
Von E. Werber.
(Fortsetzung.)

Die Arme um eine Säule des Kamins geschlungen, stand Charlotte, weiß wie ihr Gewand, auf das vom rechten Arme kleine Blutstropfen niederfielen; in der Mitte des Zimmers stand, hochaufgerichtet und uns mit kühnem Blicke messend, Vialez.

„Was thun Sie hier?“ fragte Henry und wollte zu Charlotte eilen. Vialez vertrat ihm den Weg: „Mein Lieber,“ sagte er mit kalter Höflichkeit, „nicht zu viel Eifer – ich bitte. Was wollen Sie hier, im Zimmer meiner Frau?“

Henry taumelte und blickte mich starr an.

„Sie haben Madame Venloo verwundet,“ rief ich entrüstet.

„Nicht doch!“ sagte er kalt. „ich bin kein Bösewicht, kein Bandit, kein Mörder. Meine Frau wollte mir nicht glauben, daß ich lebendig bin; sie hielt mich für ein Gespenst. Um ihr zu beweisen, daß ich lebe, schloß ich sie in meine Arme, und da sie sich immer noch fürchtete, wollte sie sich von mir losreißen und ritzte sich – ich weiß nicht an was.“

Wir standen sprachlos. Charlotte heftete wie eine Wahnsinnige ihre entsetzten Augen auf Henry.

„Sie werden nun die Güte haben, meine Herren, sich zu entfernen,“ fuhr Vialez fort. „Ich habe meine Frau seit zwei Jahren nicht gesehen; ich liebe sie und habe ihr Vieles zu sagen –“ Bei diesen letzten Worten blickte er nach Charlotte zurück.

Ich fragte mich, ob Vialez verrückt sei oder Henry und ich.

„Madame,“ sagte jetzt Henry mit bebender Stimme, „ist Herr Vialez Ihr Gemahl?“

„Sie zweifeln?“ rief Vialez lächelnd.

Charlotte antwortete nicht; sie blickte immer noch in Henry's Auge. Henry fragte sie noch einmal: „Ist Vialez Ihr Gemahl?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte sie.

„Sie wissen es nicht? Wie ist das möglich?“

„Mein Mann liegt in Barcelona begraben; ich habe an seinem Grabe gebetet.“

„Sie hält mich immer noch für ein Gespenst,“ sagte Vialez.

„Aber dieser Mann ist kein Gespenst, Madame, ich kenne ihn – er ist ein Mensch, ein Mensch von Fleisch und Blut.“ Ich dachte durch diese Worte sie zu beruhigen, sie aber schauderte vom Scheitel bis zum Knie.

„Ich bitte Sie zum zweiten und letzten Male sich zu entfernen,“ sagte Vialez mit schneidender Kälte.

„Bleiben Sie!“ rief Charlotte gebietend.

Vialez’ Gesicht flammte auf. „Charlotte, Sie haben sich sehr verändert. Sie sind nicht mehr das sanfte Kind, welches ich an den Altar führte.“

„Sie haben die Stimme meines Mannes, aber nicht sein Gesicht,“ sagte Charlotte, die aus ihrem Entsetzen erwacht war.

„Ja, Sie haben einen schönern Mann den Ihren genannt, und jetzt steht ein häßlicher vor Ihnen. Die Blattern haben mein Gesicht häßlich tätowirt, und ich begreife, daß ich Ihnen nicht mehr gefalle, schöne Frau. Aber gestehen Sie, daß ich wenigstens meine Augen behalten habe, die Ihnen so gut gefielen! – Nicht wahr, Donna?“

Wie klang seine Stimme traurig!

Sie ertrug seinen flehenden Blick und sagte: „Legitimiren Sie sich beim Gesandten!“

„Aber,“ warf ich ein, „Vialez ist ja ein naher Bekannter, ein Freund des Gesandten.“

„Vialez – das ist möglich. Allein mein Mann hieß nicht Vialez, sondern Huesbar,“ rief Charlotte.

„Ha! Ein Funke, ein Licht!“ sagte Henry. „Sind Sie der ehemalige Präsident der spanischen Zollämter?“

Auf Vialez’ Lippen trat ein Lächeln, aber auf seiner Stirn schwoll eine dunkle Ader. „Haben Sie vielleicht den Präsidenten Huesbar gekannt?“ fragte er.

„Nein,“ antwortete Henry ruhig. „aber ich war in Barcelona, als er dort an den Blattern starb, zu seinem Glücke, denn er wäre wegen Betruges zur Galeere verurtheilt worden.“

Vialez lachte. „Und Sie glauben, daß ich aus dem Grabe gestiegen bin, um mich zur Galeere verurtheilen zu lassen? Wahrlich, diesen Ehrgeiz hat Vialez nicht. Ich habe einen süßeren, weit süßeren Ehrgeiz, den, meine Frau zu besitzen. Die Liebe ist das Einzige, was wirklich ist; alles Andere ist nichts. Was ist es, hochgesteckt, gelehrt und berühmt zu sein? Die Frauen waren stets mein Durst und mein Ehrgeiz, und – ich habe sie beherrscht, alle, blonde und schwarze, sanfte und stolze, hohe in rauschenden Seidengewändern und niedere in erbärmlichen Kattunröckchen. Ich knickte den Fächer der Dame und schloß den lachenden Mund der Bäuerin; ich machte die Castagnetten der Tänzerin verstummen und entwand den Rosenkranz den frommen Händen der Beterin. Ich siegte auch hier“ – er zeigte auf Charlotte, die den Blick zu Boden schlug und sich fester an die Säule drückte. „Aber die Besiegte besiegte mich, die sanfte Taube sog mir das Mark aus der Seele und machte aus mir einen demüthigen, einen treuen Mann. – War es nicht so, Charlotte?“ fügte er weich hinzu.

Nach einem tiefen Athemzug sagte sie: „Wenn Sie nicht der Präsident Huesbar sind, so sind Sie auch nicht mein Gemahl.“

„Charlotte!“ stöhnte Vialez.

„Wenn Sie Ihre Rechte an mich geltend machen, so haben Sie vorerst den Muth, zu gestehen, daß Sie der zur Galeere Verurteilte sind!“

„Und wenn ich es gestünde, was gewännest Du dabei, Charlotte? Ich nähme Dich mit mir in’s Gefängniß und in den Tod.“

„Nicht in’s Gefängniß und nicht in den Palast, nicht in die Hölle und nicht in den Himmel! Wir sind geschieden, wie das Wasser vom Feuer geschieden ist,“ rief Charlotte, ihn mit einem vernichtenden Blicke messend.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ägerlich
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_556.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)