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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Ein Zwilling,“ rief der Rothe hinauf, und schallendes Lachen belohnte die Antwort.

„Und was ist das für ein Wunderland, wo die Zwillinge wachsen?“

„Gelderland.“

„Ei, was Du sagst! Muß ein fruchtbar Land sein! Werden Alle da zu Zweit geboren?“

„Alle. Denn Jedermann kommt dort zuerst als herzoglicher Gelderer und zum Zweiten als verpfändeter Burgunder auf die Welt. Zuletzt geht er aber auch noch dem deutschen Reich zu Lehen.“

„Dann ist's kein Zwilling, dann ist's ein Drilling!“ ließ jetzt der Kleine zum Beifall der Menge seinen Witz leuchten.

„Wenn Ihr mit Eurem Drilling meinen Illing von seinem Zwilling loskauft, dann will ich Euch umsonst aufspielen!“ gab der Rothe zurück.

„Loskaufen vom Illing? Wie hoch ist der Schilling?“ reimte der Kleine weiter.

„Vierundneunzigtausend Goldgulden!“ rief der Rothe. „Denn das ist das Schandgeld, für das der alte Herzog Adolf Egmont von Geldern – Gott sei seiner Seele gnädig! – aus purer Bosheit gegen seinen Sohn sein schönes altes Gelderland an Burgund verpfändet hat!

O Arnold, Arnold, schlimmer Mann,
Das klagt Dich jetzt im Himmel an!“

Ein tiefer Ernst hatte sich bei diesen Worten über das Antlitz des Spielmanns gebreitet. Wie verwandelt lagen die scharfgeschnittenen, nur durch den Höcker verunstalteten Züge, erstarrtem Metallgusse gleich, in den alten Formen, die grauen Augen blickten kummervoll nach oben, und selbst die schneidende Stimme hatte einem tiefen Brusttone Platz gemacht.

Halb mit Verwunderung, halb mit Theilnahme blickten die Umstehenden auf ihn.

„Ei, borgt das Geld von Euern Nachbarn, den Kabeljau's, und zahlt es heim, dann seid Ihr frei!“ rief der Kleine herunter.

„Borgen? Heimzahlen? Heia lustig! Kurzgeschoren haben uns die Burgunder, daß uns Keiner auf unsere Wolle noch einen Stüber borgt! O, sie wissen auch warum! In ihrem Stalle behalten wollen sie uns, um uns in ihren Kriegen auf die Schlachtbank zu schicken, denn die Gelderer sind tapfere Leute! Aber treu sind sie auch, und hängen an ihrem Herzogshause und harren und hoffen, wie die Juden auf ihren Messias, auf einen neuen Lehnsherrn hier in Eurer Krönungsstadt, dem Gott einen starken Arm und ein willig Ohr geben möge für die Noth seines Drillings! – Gott zum Gruß, Ihr Reichsstädter! Ich dachte Euch was zu fiedeln, um ein Zehrgeld zur Reise zu gewinnen, aber nun ist mir's vergangen mitsammt der Reise! Denn daß Ihr's wißt, ich wollte nach Köllen an den Hof des Herrn Maximilian und ihm um guten Dank fremde Weisen vorspielen – darum fragte ich nach ihm! Wer mag jetzt wissen, wann er vom Jagen heimkehrt?“

„Das weiß ich!“ rief der Vetter des Waldvogts. „Wandert nur nach Köllen, Fiedler, schon morgen reitet der Prinz wieder heim. Und da habt Ihr auch ein Stücklein zum Zehrgeld.“ Dabei griff er in das Ledertäschchen, das ihm neben der Armbrust am Gürtel hing, zog ein halbes Schillingsstück hervor, warf es dem Spielmann, der demüthig die Kappe abgenommen hatte, vornehm hinein und stolzirte weiter. Von den Uebrigen aber thaten es ihm die Meisten nach, und Kupfermünzen und kleine Silberstücke fielen in die Mütze des Rothen, der sich gegen Jeden dankbar neigte. Nur der kleine Rathsschließer rührte sich nicht von der Stelle, und als der Rothe jetzt mit letztem Gruße eilig davonzog, raunte er, mit den Augen blinzelnd, zum Dachdecker hinunter:

„Hört, Gevatter! Wenn das kein Spion ist, dann soll dieses unser Rathhaus niemalen eine Kaiserpfalz gewesen sein.“

Und er mochte Recht haben. Denn kaum eine halbe Stunde darauf hätte er von der Frankenburg, des Weges nach Eupen, in gestrecktem Galoppe einen Reiter jagen sehen können, der von rückwärts in Gestalt und Art der Kleidung auf's Haar dem Spielmanne glich. Auch hing ihm am Sattel eine seltsam geformte Holftertasche mit einem länglichen harten Gegenstande darin. Und doch wieder konnte es der Spielmann nicht sein, denn Kappe und Gugel waren jetzt grau, und als der Reiter einmal rückschauend sein Gesicht wandte, war kein Höcker auf seiner Nase, und ein langer grauer Bart wehte ihm im Winde. Entweder also hatte der Rathsschließer Recht, und es war ein verkleideter Spion, oder der Fiedler hatte kein Märchen berichtet, und Gelderland war wirklich das Wunderland der Zwillinge, wo sich doch am Ende durch Vererbung des Bluts das ganze Volk so ähnlich sehen muß, wie ein Ei dem andern.




2. Auf dem Hohen Venn.

Der graue Aprilmorgen schien den wetterwendischen Sinn, mit dem er das Licht der Welt erblickt hatte, wie dies auch bei Menschen vorzukommen pflegt, noch um die elfte Stunde abgelegt und mit einem entschiedeneren Charakter vertauscht zu haben. Leider aber mußte ihm bei diesem löblichen Entschlusse mehr das Vorbild seines ungemein strengen Vorfahren, des Winters von 1477, als die Rücksicht auf seine noch in der Wiege liegenden Sprößlinge vor Augen geschwebt haben, denn verdächtig schwarze Wolken umhüllten ihm, wie böse Erinnerungen an Schneewehen, die düstere Stirn, die in Gestalt des Hohen Venn als Wetterprophet über der Umgegend lagerte. Hier, auf jenem gipfellosen, von Torfmooren und Sümpfen unterbrochenen Höhenrücken, der wenige Meilen südlich von Aachen über die Grenze hinweg den belgischen Ardennen zustrebt, mochte er in voller Einsamkeit über winterlichen Gedanken brüten zu können glauben. Aber er irrte sich. Laute Rufe aus hoher Luft schreckten ihm jäh das Gewölk von der Stirn, denn sie verkündeten mit heiseren Trompetentönen, daß es noch Gewalten gebe, die über allen Gedanken, selbst über denen des launischsten aller Despoten, stehen. Es waren lange Züge von Wildgänsen, die von Süden her, den spitzen Winkel ihrer Phalanx nach vorn gekehrt, den Nordwind durchschnitten, um den Triumphzug des nahenden Frühlings über die Erde ertönen zu lassen. Ja, dem finster dreinschauenden Wetterpropheten zum Trotze war einer oder der andere dieser südländischen Frühlingsboten, ja, waren selbst vornehmere Nordpolfahrer, gefiederte Fürsten aus dem Mohrenlande, vom Geschlechte der schwarzen Schwäne, so rücksichtslos, sich vor seinen Augen auf den unwirthlichen Sumpfmooren niederzulassen, die zwischen den Quellen der Botrange und der Helle sich diesseits und jenseits der deutschen Grenze durch Haide, Ginster und spärlich von Weidenstümpfen überragte Grasflächen hinzogen. Aber auch sie täuschten sich, wenn ihr Instinct sie hatte glauben lassen, daß keinem lebenden Wesen außer ihnen diese traurige Oede als Zufluchtsstätte dienen werde, denn bald deuteten ihre eigenen Bewegungen darauf hin, daß allerdings einheimische Bewohner vorhanden sein müßten.

Wer als aufmerksamer Beobachter unter dem Schutze des Waldrandes gestanden hätte, welcher sich wenige hundert Schritte südlich vom Moore in der Richtung nach Montjoie hinabsenkte, dem würde es nicht entgangen sein, wie das dürre Schilfrohr zwischen den Weidenstümpfen an den Rändern des Sumpfes hier und da gewaltsam auseinander gerissen wurde, daß die geknickten Halme im Winde davonflogen. Ab und zu würde er auch wohl gesehen haben, wie eine Wildgans sich mit kurzem Flügelschlage erschrocken aufhob, um sich gleichwohl unweit der Stelle arglos wieder niederzulassen – ein sicheres Zeichen, daß der scharfsinnige und schlaue Vogel sich von keinem blutlüsternen Feinde, wie dem Fuchse, dem Wolfe, oder gar dem bösen Menschen, bedroht wisse, sondern nur von irgend einem gewaltsamen, aber ihm ungefährlichen Geschöpfe aufgescheucht sei. Und wenn ihm ja noch Zweifel über die Natur des letzteren beigekommen wären, so würden ihn das ferne Rüdengebell und die Hornrufe, die jetzt aus der Richtung des Aachener Waldes herübertönten, zu dem Schlusse geführt haben, daß in diesen Sümpfen kein anderes jagdbares Wild, als das borstige Volk der Sauen, lagern könne.

Dieselbe Beobachtung schienen auch die beiden Männer zu machen, die in diesem Augenblicke unter den verkrüppelten Buchen des Waldrandes hervortraten, um, die Hand am Ohre, den fernen Tönen zu lauschen.

Nach Tracht und Ausrüstung waren es Waidmänner. Die naturfarbenen Kappen mit Habichtstutzen, die grauen Jagdröcke über den engen Beinkleidern, Schulterkragen und Wadenstiefeln von Hirschleder, die am Gürtel neben dem Waidmesser hängende Armbrust, und der Jagdspeer, dessen eisenbeschlagenes unteres Ende sie als Stock gebrauchten, kennzeichneten sie hinlänglich als solche.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_549.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)