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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Fragen für andere große Städte, welchen Hamburg auch hierin als Muster gezeigt werden kann, sich vorfindet.

Der Kronprinz und die Kronprinzessin begleitet von dem Prinzen Wilhelm, hatten am 21. April nach Verlassen der Börse, etwa um zwei Uhr Mittags, einer Einladung des Hamburger Ruderclubs „Germania“ und des Ruderclubs „Loreley“ Folge gegeben, und wurden von denselben nach einer Ruderfahrt auf der Binnen- und Außen-Alster, welche, von zahllosen Clubböten, Dampfschiffen und Segelfahrzeugen begleitet, bei dem schönsten Sonnenwetter und unter dem Hurrahrufe der die Bassins umgebenden Menschenmenge von Statten ging, um zwei dreiviertel Uhr an der Lombardsbrücke ausgeschifft. Hier warteten der Ober-Ingenieur Andreas Meyer und andere Ingenieure seines Ressorts und wurden vom Senator Hertz, dem Präses der Baudeputation, den hohen Herrschaften vorgestellt. O.-I. Meyer führte dieselben, nachdem sie sich von den Ruderclubs in verbindlicher Weise verabschiedet hatten, durch einen gewölbten unterirdischen Gang in die etwa zehn Meter unter der Straßenoberfläche belegene Spülkammer des Sieles, an deren Wänden, durch Gasbeleuchtung erhellt, die hauptsächlichen Zeichnungen und Modelle des Sielsystems ausgehängt waren.

Diese Zeichnungen wurden von dem Kronprinzen und seiner Gemahlin mit Interesse besichtigt. Auf die Frage des Kronprinzen nach der eigentlichen Definition des Wortes „Siel“, welches im Allgemeinen in Deutschland nicht für derartige Anlagen gebraucht werde, führte O.-I. Meyer diesen Ausdruck auf die Entwässerungen der tiefbelegenen Marschen (der Unterelbe und Unterweser etc.) zurück, welche mittelst eines hölzernen oder gemauerten Tunnels durch die Deiche ihren Abfluß in die Ströme oder die See haben. Diese Abflußrohre heißen „Siele“, und da sie in der Umgegend von Hamburg eine große Rolle spielen, so mag sich der Ausdruck bei zunehmender städtischer Bebauung auf die unterirdischen Entwässerungsrohre ganzer Stadttheile übertragen haben, sodaß endlich das gesammte Schwemmsystem der hamburgischen Canalisation den Namen Sielsystem behalten hat.

Diese hamburgischen Siele dienen zur Aufnahme des gesammten Tages- und Verbrauchswassers einschließlich sämmtlicher häuslicher Abflüsse und Ausscheidungen. Zugleich erniedrigen sie den Stand des Grundwassers, was für die Trockenlegung der oftmals gegen die Elbe und die Alster schon niedrig belegenen Stadttheile sehr wichtig ist. Es sind besteigbare, eiförmig oder kreisrund gewölbte Canäle aus Backsteinen, in Portland-Cement-Mörtel gemauert, deren Zweige sich mitten unter den Fahrwegen durch alle Straßen erstrecken. Diese Zweigsiele, dem natürlichen Gefälle des Straßenterrains möglichst folgend, vereinigen sich zu immer größeren Canälen, welche zuletzt als Stammsiele mit dem durchschnittlichen Gefälle von 1:3000 ihre erheblichen Wassermengen mit der Geschwindigkeit von einhalb bis ein Meter pro Secunde der Elbe zuführen. Unter vielen in der Stadt befindlichen Schifffahrtscanälen (Fleethe, Alster etc.) sind die Siele mittelst sogenannter Düker[1] senkrückig durchgeführt. Im Allgemeinen halten sie sich durch ihre eigene Strömung rein. Um aber in dieser Beziehung nachhelfen zu können, werden, wo es nöthig ist, künstliche Durchspülungen durch die drei Meter hoch gestaute Wassermenge des Alsterbassins hervorgebracht, wodurch dann eine sehr schnelle Strömung erzielt wird.

Es haben sich nach und nach drei Sielsysteme ausgebildet, zuerst das alte städtische System, welches nach der Feuersbrunst von 1842 in den abgebrannten Stadttheilen angelegt wurde und jetzt die ganze innere Stadt umfaßt. Der Vortheil dieser ersten Anlage stellte sich evident heraus, als nach Erbauung der Stadtwasserkunst zu Ende der vierziger Jahre ein reichliches Wasserquantum in die Häuser befördert wurde, welches nach gemachtem Gebrauche, also verunreinigt, wieder zu entfernen war. Deshalb vereinigte man sich neu die Mitte der fünfziger Jahre mit der Nachbarstadt Altona zur Anlage eines zweiten Systems, des Hamburg-Altonaer Grenzsiels, welches die hamburgische Vorstadt St. Pauli mit einem Theile der Stadt Altona entwässert.

Als in den sechsziger Jahren die Bebauung Hamburgs sich mehr und mehr in das Land hinein alsteraufwärts ausdehnte, baute man für die gesammten Umgebungen Hamburgs, welche theils ihrer Ausdehnung, theils ihrer tiefern Lage wegen nicht mehr den alten Systemen eingefügt werden konnten, das größte und dritte System, das Geeststammsiel.

Auf diese Weise ist jetzt die Aufnahme des ganzen für den städtischen Anbau geeigneten hamburgischen Gebiets in einer Fläche von sechstausend Hectaren ober etwa einer Quadratmeile in das Schwemmsystem vorgesehen, und die jetzt mit einem Kostenaufwande von fünfzehn Millionen Mark ausgeführten Sielstämme und -Zweige haben bereits eine Länge von einhundertsechsundachtzig Kilometern oder fünfundzwanzig deutschen Meilen erreicht. Das aus zwanzig Wärtern bestehende Aufsichtspersonal verkehrt darin, indem es durch die in Abständen von einhundertundzwanzig bis einhundertundvierzig Metern von den Straßen hinabführenden Einsteigeschächte hinabsteigt und die kleineren Siele zu Fuß durchwandern, die größeren mit Böten durchfährt.

O.-I. Meyer machte nun noch an den Zeichnungen und Modellen auf einige Hauptprincipien der Hamburger Schwemmsiele aufmerksam, insbesondere darauf, daß überall für eine freie Circulation der Luft durch offene, in durchschnittlich fünfundvierzig Metern Entfernung von der Straße in die Siele hinabführende Luftschächte gesorgt ist, und daß auch die Rinnsteinläufe keine Wasserverschlüsse haben, sondern daß lediglich auf sorgfältige Wasserabschlüsse der häuslichen Einrichtungen Bedacht genommen wird, damit die Sielluft nicht in die Häuser eindringen kann. Nachdem Herr Meyer als besonders wichtig noch hervorgehoben hatte, daß ferner eine Wasserversorgung durch die Wasserwerke nur da gestattet sei, wo Siele liegen, und daß auch hinfüro die Kellerwohnungen ohne genügend tiefe Sielabwässerung verboten werden sollen, ging dann die Versammlung zur Besichtigung der Localität über, in welcher dieselbe sich eben befand.

Es war dies die Stelle in dem Geeststammsiel, an welcher die von dem linken Alsterufer zugeführten Sielwässer mittelst eines Dükers unter der Lombardsbrücke die Alster durchkreuzen, um sich an der andern Seite mit den Sielen des rechten Alsterufers zu vereinigen und mit ihnen gemeinsam in einem dreiundeinhalb Kilometer langen Transportsiel von drei Meter kreisförmigem Durchmesser der Elbe zugeführt zu werden. Die Einrichtung zur Spülung dieses Dükers erblickte man durch die eingefriedigte Boden-Oeffnung in der Mitte des Raumes. Zwei eiserne Stemmthore wurden nun plötzlich geöffnet und die dahinter aufgestaute Wasserfluth stürzte schäumend in den Düker hinein. Durch das Einsetzen starker Vorgelege wurden alsdann die Thore von zwei in den Seitennischen stehenden Sielwärtern gegen die Gewalt des Spülstroms wieder zugedreht.

Die Kronprinzessin befragte den O.-I. Meyer sehr eingehend nach der Construction und Kraftwirkung dieses Apparats und verabschiedete sich dann, da sie an der Sielfahrt nicht teilnehmen wollte, während sich der Kronprinz mit seinem Sohne und Gefolge nach der andern Seite der Lombardsbrücke begab, um hier an der untern Seite des Dükers in den kleinen Bootshafen zu treten, von welchem aus die Fahrt durch die vorhin erwähnte dreiundeinhalb Kilometer lange Mündungsstrecke des Geeststammsiels beginnen sollte.

Es waren hier zum Schutze gegen die Erdfeuchtigkeit, welche stellenweise durch die porösen Steingewölbe in das Siel hinabtröpfelte, leichte graue Mäntel bereit gehalten, als Kopfbedeckungen sogenannte Südwester und leinene Capuzen. Der Kronprinz wollte seine Mütze nicht ablegen und wählte deshalb eine Capuze, worauf die ganze Gesellschaft sich in dieser Weise verhüllte, was zu allerhand lustigen Bemerkungen Veranlassung gab. Nachdem O.-I. Meyer noch einmal die oberen Thore hatte öffnen lassen, um den Austritt der wildaufschäumenden Spülwelle aus dem Düker, vor dessen unterm Ende die Gesellschaft sich befand, vor Augen zu führen, wurde der Kronprinz ersucht, aller nautischen Etiquette zuwider, in diesen stygischen Gewässern zuerst das Boot zu besteigen, welches, durch Petroleumlampen erleuchtet, an dem Granitsteinperron lag, ein flachbodenes, sechs Meter langes Fahrzeug mit durchgehendem Mittelgang und einzelnen Sesseln an den Langseiten, auf deren vorderstem der Kronprinz Platz nahm. Vor ihm, auf einer Querbank hatte O.-I. Meyer seinen Steuermannsplatz, um mit einer Querstange das auf dem Sielstrome dahintreibende Boot vor dem Anstoßen an den Wänden zu verhindern. Ganz hinten im Boot war wieder eine Querbank, auf welcher der Bau-Inspector Gurlitt und ein Conducteur des Sielbaues

  1. Wo ein Schifffahrtscanal den Lauf des Sieles durchkreuzt, muß das letztere, um den Canal nicht zu sperren, die unter den Boden desselben versenkt werden, und steigt an der andern Seite entsprechend wieder in die Höhe. Eine solche Durchbiegung des Sieles nach unten heißt „Düker“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_541.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)