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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Wir stiegen ein, und der Wagen rollte wohl eine Viertelstunde ebenen Weges zwischen prosaischen Kartoffelfeldern dahin, bis er endlich auf Pflaster rasselte und schließlich hielt. Der Wirth trat mit einem Lichte, es war mittlerweile dunkel geworden, vor die Thür und leuchtete uns in das Haus. Bevor wir aber eintraten, warfen wir noch einen prüfenden Touristenblick zu dem Throne des Jupiter Pluvius empor und gewahrten da zu unserm freudigen Erstaunen, daß kaum hundert Schritt uns gegenüber – so schien es wenigstens – der dunkle Felsenkoloß des Hohentwiel in den klaren, reichgestirnten Nachthimmel hineinragte. Höchst befriedigt begaben wir uns nun gleich rechts in den freundlichen Speisesaal, wo wir bald darauf bei köstlichen Forellen saßen. Schon ehe wir uns zu Tische gesetzt, hatten wir uns einander vorgestellt und dabei hatte sich der alte Herr als ein Justizrath aus Norddeutschland und der jüngere als ein Dechant aus Württemberg entpuppt.

Bei dem Wirth, der sich zu uns setzte, erkundigten wir uns sodann, wie weit es bis zum Hohentwiel sei, und erfuhren, daß man nur ein Stündchen auf bequemem Wege steigen müsse, um auf die Höhe zu kommen. „Sie machen den kleinen Abstecher gewiß auch hauptsächlich dem Ekkehard zu Liebe?“ fragte er.

„So ist es, versetzte der Rath, „und der Praxedis nicht zu vergessen.“

„Ja, die Wallfahrt nach der schönen Ruine nimmt mit jedem Jahre zu, seit der 'Ekkehard' erschienen ist. Ich habe in Folge dessen den ganzen Sommer über Verkehr. Die meisten Reisenden machen es so wie Sie, und das ist auch das Praktischste, sie kommen mit dem Abendzuge, übernachten hier und besteigen den Hohentwiel am Vormittage. Auch Herr Dr. Scheffel nimmt stets bei mir Quartier, wenn er der Burg einen Besuch abstatten will, und das ist in letzter Zeit ziemlich oft vorgekommen, denn Jeder, der ihn in seiner Villa in Radolfzell besucht, möchte unter seiner Führung den Schauplatz des Ekkehard kennen lernen.“

„Und da wird die Berühmtheit leicht zur Plage; nun, wir wollen ihn nicht incommodiren, aber auf seine Gesundheit wollen wir einmal anstoßen, daß es ihm noch lange vergönnt sei, den Hohentwiel emporzuklimmen: Meister Scheffel soll leben!“

Die allgemeine Heiterkeit war damit in das beste Fahrwasser gekommen und manch lustig Lied aus dem „Gaudeamus!“ erklang noch in die stille Nacht hinein, bevor wir, der Rath nicht ohne Mühe, unser Lager aufsuchten.

Am andern Morgen, als wir die Fensterladen aufstießen, prangte zwar der schönste Sonnenschein, aber vom Hohentwiel war zu unserem Schrecken keine Spur zu entdecken, er war gänzlich verschwunden; hinter den Häusern, wo er am Abend gestanden, wogte eine hellgraue Wolkenmasse wie ein unendliches Meer. Doch während wir noch bangen Herzens standen, theilten sich oben die Wogen, und wie eine lachende Insel blickte die Kuppe der Burg hervor.

„Vivat und Victoria!“ jubelte der Rath; unsere Hoffnung war wieder gerettet. Mittlerweile zerrannen die verhüllenden Wolken immer mehr, und als wir uns nach dem Frühstücke auf den Weg machten, strahlte der gewaltige, schroff aufsteigende Felsklotz im klarsten Glanze der Morgensonne. Zunächst schritten wir zwischen Rebengeländen auf einer sanft ansteigenden Straße dahin; nach und nach ging es etwas steiler, das störte uns aber wenig, rüstig ging es weiter, und mit wonnigem Behagen sogen wir die frische Morgenluft und den erquickenden, gewürzigen Duft des Traubengamanders und Bergehrenpreises ein. Der Rath war stets der Vorderste und wiederholt sang er in das Land hinaus:

„Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,
Wer lange sitzt, muß rosten;
Den allersonnigsten Sonnenschein
Läßt uns der Himmel kosten.
Jetzt reicht mir Stab und Ordenskleid
Des fahrenden Scholaren,
Ich will zu guter Sommerszeit
Zum Hohentwiele fahren!“

Ungefähr auf der halben Höhe, da, wo der Weg eine Schwenkung nach links macht, liegt ein Meierhof, und am Thore desselben belehrt uns eine Tafel, daß man sich hier mit einem Führer zu bewaffnen und auch ein kleines Eintrittsgeld zu zahlen habe. Der Cicerone, ein alter origineller Kauz mit grauem Schnurrbarte, war bald zur Stelle, und so ging die Wanderung weiter. Nach einigen Kreuz- und Querfragen von unserer Seite begann der belehrende, mit einer gewissen rhetorischen Feierlichkeit gehaltene Vortrag des Alten. Er that kund, daß der Fels des Hohentwiel sich sechshunderteinundneunzig Meter über der Meeresfläche erhebe und aus Phonolith oder Klingstein bestehe, so genannt von dem Klange, den er von sich gebe, wenn man größere Stücke aneinanderschlage. In den schmaler Rissen oder Klüften finde sich außerdem auch noch ein sehr schönes Mineral, der hochgelbe, strahlende Natrolith.

„Stimmt, stimmt!“ unterbrach hier der Rath.

„Und ein goldgelb Tröpflein Natrolith
Im geschwärzten Stein oft erscheinet …
Das sind die Thränen, die der Basalt
Der gesprengten Molasse weinet.“

Der Führer nickte, die Störung gnädig verzeihend, und berichtete dann weiter, daß der Hohentwiel eine der ältesten Burgen Schwabens und wahrscheinlich römischen Ursprungs sei, wofür auch sein uralter Name Duellium spreche. Die erste sichere Nachricht über die Burg stamme aus dem Jahre 806, zu welcher Zeit ein Sohn Karl’s des Großen, nach seinem Großvater Pipin genannt, die Besitzung innegehabt. Im zehnten Jahrhundert sei sodann die Burg alemannisches Herzogsgut und Wohnsitz der Herzöge Alemanniens, z. B. Burkhard’s des Zweiten und dessen schöner Wittwe Hadwiga geworden. „Doch ’s Weitere von der Hadwiga und dem Ekkehard wisset Se wohl,“ brach er hier ab.

„Kein Sterbenswörtchen,“ betheuerte der Rath ernsthaft.

Der Graubart sah uns ungläubig an. „Von dem Sanct Galler Mönch Ekkehard, von dem die Herzogin Lateinisch lernen wollte, in den sie sich dann aber verliebte und der auch dann in Liebe für die schöne Frau entbrannte, sodaß er sie eines Tages in der Burgcapelle in übermächtiger Leidenschaft an seine Brust riß und mit Küssen überschüttete, worauf er in einen Thurm gesperrt wurde und vor ein Gericht gestellt worden wäre, hätte ihm nicht die Griechin Praxedis zur Flucht verholfen. Er ging nach Appenzell, wo er im Waldkirchlein das Waltarilied übersetzte, das er sodann –“

Jetzt konnte sich der Dechant eines Lächelns nicht mehr enthalten, was der Alte auch sofort bemerkte.

„Han i ’s doch glei denkt,“ unterbrach er seine wohlgesetzte hochdeutsche Rede, „daß Se den Scheffel g’lese hänt.“

„Das müssen Sie stets von Jedem denken,“ entgegnete der Rath mit dem Ernst, als fälle er ein gerichtliches Urtheil, „denn Jeder, der diesen classischen Boden besucht, hat doch wohl Scheffel’s classisches Werk studirt.“

„Jetzt scho, da möget Se Recht han,“ versetzte der Alte, „aber vor zwanzig Jahren, da hat mer noch nix g’wüßt von dem Scheffel sei’m Ekkehard, und doch sind auch damals schon die Leut’ herkommen aus aller Herren Ländern, freilich seit dem Scheffel sei’m Ekkehard da ischt die wahre Völkerwanderung losgangen; doch auch sonscht ischt die Feschtung sehr sehenswerth, ganz abg’sehn von der Aussicht. Denn seit 1538“ (ging nun der Vortrag im Hochdeutsch weiter) „kam die Burg, nachdem sie längere Zeit den Hohenstaufen gehört, unter Herzog Ulrich an Württemberg, wozu sie noch heute gehört. Die Herzöge von Württemberg ließen sie nach und nach erheblich erweitern, 1554 erbaute Herzog Christoph das sogenannte fürstliche Haus und befestigte den Bau stark, sodaß er im Dreißigjährigen Kriege unter dem tapfern Obersten Widerhold fünf Belagerungen aushalten und sich sechszehn Jahre lang gegen alle feindlicher Angriffe behaupten konnte. Unter dem Herzog Karl Eugen wurde die Burg hauptsächlich als Strafplatz für Strafgefangene benutzt, und so saß denn hier der Patriot Johann Jacob Moser fünf Jahre lang und der bekannte Oberst Rieger vier Jahre lang, anfangs in einem Kerker, in den weder Sonne noch Mond schien. Ein schreckliches Ende nahm es mit der Festung im Jahre 1800. In dieser Zeit drang ein französisches Heer unter General Vandamme nach Schwaben vor und erschien am 1. Mai in Singen. Darauf schickte Vandamme einen Adjutanten auf den Hohentwiel, um mit dem Commandanten zu verhandeln, und dieser, ein General Bilfinger, beschloß mit dem zweiten Befehlshaber, dem Obersten Wolf, und unter[WS 1] Zustimmung sämmtlicher Officiere, mit Ausnahme des Lieutenants von Reizenstein, zu capituliren, jedoch nur unter der Bedingung, daß die Festung im gleichen Zustande, in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_538.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)