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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Schnell in den Wagen!“ sagte Caspar Raick, der an allen Gliedern zitterte und gespenstisch weiß geworden war.

Wir trugen sie zum Wagen, an den beiden Männern vorüber.

„Die Dame ist unwohl geworden? Lassen Sie mich Ihnen helfen!“ sagte Vialez, den ich jetzt erkannte.

Caspar Raick zog mit bebender Hand der Ohnmächtigen Tuch über ihr Gesicht. Henry hielt sie im Wagen in seinen Armen und Caspar stellte sich davor, während ich Geige, Fernglas und die Stühle mit Vialez’ und seines jungen Begleiters Hülfe holte.

„Welch toller Einfall,“ sagte Vialez lachend, „gleich Arabern den Sternen etwas vorzusingen! Und auch ein Fernglas haben Sie mitgenommen? Und Stühle?! Sie wollten wohl die ganze Nacht hier bleiben? Ah, zu viel Poesie ist schädlich. Sie haben den Beweis davon gesehen – Ihre Dame wurde ohnmächtig.“

„Die Dame ist nicht meine Dame,“ sagte ich verweisend; er war mir unerträglich in diesem Augenblicke. Endlich hatte ich Alles in den Wagen gebracht und stieg hinein. Wir fuhren davon; Henry hielt die noch bewußtlose Charlotte im Arme und feuchtete ihre Stirn und Schläfen mit einem Tuche, welches ich in’s thauige Gras gedrückt hatte.

So plötzlich, so unerklärlich plötzlich war die Störung gekommen. Ich sann und fragte mich: „Was war das?“




„Marion, wie befindet sich heute Madame Venloo?“ fragte ich am folgenden Morgen das Mädchen und faßte sie scharf in’s Auge. Es war mir in der Nacht plötzlich eingefallen, daß, als wir am Rande der Wiese hielten und ausstiegen, eine Kutsche hinter uns und an uns vorbeifuhr; ich dachte nun, Vialez’ Erscheinen bei der Wiese sei vielleicht kein Zufall gewesen.

Marion war stark; sie hielt meinen Blick ohne Erröthen aus. „Madame Venloo scheint wohl zu sein; sie ist schon ausgegangen.“

„Schon ausgegangen? Ah! – Seien Sie nicht so entsetzlich fleißig schon am frühen Morgen,“ sagte ich, nahm ihr das Klöppelkissen von den Knieen und setzte es auf die meinigen.

Sie lachte: „Wollen Sie mir zeigen, wie ungeschickt Sie sind? Es ist nicht nöthig – ich glaube es ohnedies.“

„Marion, Marion! – Ihre Spitze ist seit acht Tagen nur um ein kleines, kleines Stückchen länger geworden, und doch sitzen Sie immer und klöppeln – oder thun Sie vielleicht nur so?“ Ich nahm ihre kleinen blutreichen Hände in die meinen und küßte sie.

Mit einem raschen Blicke sah sie hinüber zu Vialez’ Hause; da sie wahrscheinlich Niemanden am Fenster sah, ließ sie mir ihre Hände, und ich drückte noch einen Judaskuß darauf.

„Sagen Sie, Marion, warum ist Ihre Spitze in acht Tagen nur um ein so kleines Stückchen länger geworden? Sind Sie verliebt?“

Sie erröthete leicht. „Arbeitet man denn weniger, wenn man – wenn man verliebt ist?“

„Viel weniger, Marion, viel weniger! Man arbeitet fast gar nicht mehr.“

„Wirklich? Was thut man dann?“

„Man denkt immer an die liebe Person; man träumt von ihr den ganzen Tag, und wenn man kann, so schaut man oft zu ihr hinüber und – dies ist ganz gewiß – man meint, Andere bemerken es nicht.“

Marion's Hände wurden kalt und feucht – ich ließ sie nicht los.

„Dies sind Dinge, die ich nicht kenne und nicht verstehe,“ sagte die kleine Heuchlerin mit einem Blicke über die Hofmauer; „ich bin noch zu jung, viel zu jung dazu.“

„Wie alt sind Sie denn, Marion?“

„Siebenzehn Jahre.“

„Siebenzehn! Schon siebenzehn! O, mit siebenzehn Jahren darf ein Mädchen sich verlieben, Marion; ich darf Ihnen das sagen, ich bin ein alter Mann mit grauem Haare.“

Sie sah mich von unten herauf an. „Man könnte meinen, Sie hätten sich die Haare grau gefärbt, um jungen Mädchen so etwas sagen zu dürfen.“

„Nein, nein, Marion, ich bin alt, fast noch einmal so alt, wie Sie. Wie alt ist denn Madame Venloo?“

„O, Madame Venloo ist nicht mehr jung; sie ist schon fünfundzwanzig Jahre alt.“

„Schon fünfundzwanzig Jahre? Das ist freilich sehr alt. Sie sieht noch jung aus –“

„Finden Sie Madame Venloo schön?“ Bei diesen Worten wurde wie mit einem Zauberschlage ihr siebenzehnjähriges Gesicht recht häßlich alt.

„Schön? Nein, Madame Venloo ist nicht schön, aber sie ist sympathisch und interessant.“

Marion biß sich in die Unterlippe: „Ja – ja, die Herren finden die Damen interessant, die in Ohnmacht fallen; das könnte ich auch zuwege bringen, wenn es sein müßte.“

„Wenn es sein müßte? Glauben Sie denn, Madame Venloo sei gestern nicht wirklich in Ohnmacht gefallen?“

„Ich weiß es nicht. Ist sie schon andere Male in Ohnmacht gefallen, wenn Herr Flomberg auf der Geige spielte?“

„Nein; sie ist auch nicht durch das Geigenspiel ohnmächtig geworden.“

„Wodurch denn?“

Der ironische Ton ihrer Frage befriedigte mich; er bestätigte meine Vermuthung. „Vielleicht durch die Nachtluft oder durch zu langes durch das Fernrohr schauen, vielleicht auch durch das plötzliche Dazwischentreten zweier Herren; es ist möglich, daß dies sie erschreckt hat. Sie lächeln, Marion? Sie glauben es nicht?“

„O doch, ich halte dies für möglich, für wahrscheinlich,“ sagte sie mit gewissem Nachdrucke.

„Sie sind ein außerordentlich verständiges Mädchen, Marion; man kann mit Ihnen über Alles sprechen.“ Ich drückte meinen dritten Judaskuß auf ihre rothen Händchen. „Es ist wirklich schade, daß Sie gestern nicht mit uns fuhren; die Nacht war wunderschön, und gar der Himmel! Vielleicht hätten Sie uns auch sagen können, woher so still und so plötzlich die beiden Herren kamen –“

Ihre Hände zuckten in den meinen, aber ihre Wimper zuckte nicht, als sie mit künstlichem Lächeln sagte: „Wie hätte ich dies wissen können?“

„O, Sie haben gute Augen, gute – und schöne Augen, Marion. Sie sind sehr klug, und wer weiß? Sie könnten vielleicht Manches sagen, wenn Sie nur wollten, zum Beispiel wer die Herren sind –“

„Sie irren,“ sagte sie ausweichend, „ich kenne die Herren nicht.“

„Das ist auch unnöthig, Marion – ich kenne sie.“

Das traf. Sie blickte zur Seite, krampfhaft athmend, und versuchte, mir ihre Hände zu entziehen; ich hielt sie fest. „Denken Sie nur, Marion, es waren Ihre Nachbarn von da drüben, Herr Vialez und sein – Bedienter, ein junger hübscher Mensch, braun wie ein Zigeuner, Sie haben ihn gewiß schon oft am Fenster gesehen, nicht? Herr Vialez wollte auch die Sterne sehen; welcher Zufall, gerade in derselben Nacht, da wir sie sehen wollten und – und sogar an derselben Stelle, über zwei Stunden weit von Brüssel – ist es nicht ein merkwürdiger Zufall, Marion?“

„Lassen Sie mich! Mir wird unwohl,“ sagte sie.

Ich wußte genug. Madame Denise rufend, verließ ich Marion, für welche, eher als sie gedacht, die Stunde gekommen war, in welcher sie eine Ohnmacht zuwege bringen sollte.

Caspar mußte unbedingt von meiner Entdeckung unterrichtet werden, da er aber mit Madame Venloo ausgegangen war, so suchte ich vorläufig Henry auf.

„Eben wollte ich zu Dir gehen,“ rief er mir entgegen und reichte mir einen offenen Brief. Ich sah meinen Freund mit Erstaunen an; sein Auge leuchtete von Muth und Glück, und auf seinen Lippen ruhte eine selige Zuversicht.

„Was hast Du?“ fragte ich.

„Lies, so lies doch!“

Der Brief war von Mistreß Stephenson:

„Werther Master Flomberg! Ihre gute Mutter hat mir ein Buch geschickt, welches Sie vor zwei Jahren verfaßt haben. Sie wollte mir eine große Freude dadurch bereiten, aber ich bin gezwungen Ihnen zu sagen, daß mir das Buch nicht gefällt. Ich bin im guten alten Christenglauben erzogen worden, und die vielen heidnischen Dinge in Ihrem Buche entsetzen mich. Ich kann nicht die Frau eines Mannes werden, der nicht Alles glaubt, was ich und alle guten Christen glauben, auch würde mein Bruder, welcher, wie Sie wissen, Geistlicher ist, Sie niemals als seinen Schwager anerkennen. Seien Sie überzeugt, daß ich etc.“

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