Seite:Die Gartenlaube (1877) 524.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

ein Stör im Laufe eines Jahres producirt, sich auch nur eine Million zu weiblichen entwickelte, so würde doch nicht einmal die zweite Generation als ganz kleine Fische Platz neben einander auf der Erdoberfläche haben; die vierte Generation würde so viel Caviar liefern, als das Volumen der Erde ausmacht. Die graue Fleischfliege erzeugt in kurzer Zeit gegen zweitausend Maden, welche bei reichlicher Nahrung in vierundzwanzig Stunden zweihundertfach an Gewicht zunehmen und in fünf Tagen ausgewachsen sind, daher man mit Linné sagen kann, daß schon wenige Individuen ebenso schnell, wie ein Löwe, ein Pferd auffressen können.

Ein Beispiel dieser Art möge noch folgen. Eine Kiefern-Blattwespe, welche jährlich einmal hundert Eier legt, kann, wenn die Hälfte der Eier Weibchen liefert und keins davon zu Grunde ging, schon in zehn Jahren eine Nachkommenschaft von 200,000 Billionen Afterraupen haben, welche in einem Jahre alle Kiefernwaldungen Deutschlands zerstören könnten. Glücklicher Weise aber verwirklichen diese Möglichkeiten sich in der Natur nie. Es kann das eine oder das andere Thier durch besonders günstige Umstände auf kurze Zeit einmal das Uebergewicht erreichen, aber sofort wird es durch die verschiedensten Gegenkräfte der Natur wieder beseitigt. Der Vermehrung der Organismen sind Grenzen verschiedener Art gesetzt. Selten wird die Grenze der nothwendigen Nahrungsmittel erreicht. Die Vermehrung findet schon weit vor derselben durch andere Vertilgungsfactoren, z. B. Witterung und Feinde, eine Grenze, welche nur in den seltensten Fällen überschritten werden kann. Außerdem kommt noch der Umstand in Betracht, daß viele Keime überhaupt nicht entwickelungsfähig sind.

Jaeger beobachtete z. B. mehrere tausend Forellen in ihrer Entwickelung und kam zu folgendem Resultat: „Es war schon ein beträchtlicher Unterschied in den Eiern wahrzunehmen. Einige waren schön orangeroth, andere blaßgelb, andere grünlich. Die orangerothen lieferten die kräftigsten Fische, die grünlichen minder gute, und die blaßgelben waren häufig taub. Ein Theil dieser Eier konnte gar nicht befruchtet werden und starb schon vor der Befruchtung ab; ein anderer Theil starb, nachdem die Dotterfurchung durchlaufen war. Dann trat eine große Sterblichkeit ein, als in dem Ei die Augen des jungen Thieres zu sehen waren. Endlich entwickelten sich noch viele Monstra, die sehr bald zu Grunde gehen mußten.“

Es ist nun ferner ein Naturgesetz, daß mit der starken Vermehrung eines Thieres eine rasche Vermehrung seiner natürlichen Feinde Hand in Hand geht. Die Vermehrung der Organismen wächst, wie die Unterhaltsmittel wachsen, abgesehen von den anderen Verfolgungsfactoren. Wir wollen nur daran erinnern, daß nach Jahrgängen, in welchen die Kohlraupen in ungeheuerer Anzahl auftraten und großen Schaden verursacht hatten, sie oft wie verschwunden waren. Gewöhnlich ist man dann bald mit der Erklärung fertig, daß das Wetter dem Ungeziefer nicht günstig war.

Wir bezweifeln gewiß nicht, daß die Witterung oftmals sehr unter den Insecten aufräumt. Wir lernten ja vorhin die Witterung als einen Vertilgungsfactor kennen. Nasses und kaltes Wetter tödtet z. B. alle Kohlraupen im jüngern Alter. In sehr vielen Fällen liegt aber die Ursache darin, daß sich mit den Kohlraupen auch deren Feinde stark vermehrt haben, welche nun den Vernichtungskrieg beginnen. Als Beleg dafür diene folgende Beobachtung: In den Jahren 1875 und 1876 war der Kohlweißling (Pieris brassicae) in den Elbmarschen Hannovers so häufig, daß die Hausfrauen, trotz allen Fleißes, den für den Mittagstisch so angenehmen Kohlkopf nicht vor seinen Raupen schützen konnten. In diesem Jahre sind sie nun plötzlich verschwunden. Gewiß wird Manchem im vorigen Herbste aufgefallen sein, daß die fast erwachsenen Raupen krank und schlaff auf den Kohlblättern saßen. Schlitzte man einer solchen kranken Raupe, welche man vorher in Spiritus getödtet hatte, mit einem spitzen Messer die Bauchwand auf, so fand man im Innern viele Schmarotzer, die den Käsemaden ähneln. Diese Schmarotzer sind die Larven von Schlupfwespen; sie bedingen stets den Tod der Raupe. In Amerika machte man die Beobachtung, daß in drei bis vier Jahren der Schaden der Hessenfliege (Cecidomyia destructor) wuchs, dann aber plötzlich nachließ, weil ihre Feinde sie bewältigt hatten. Jeder, der sich gern mit der belebten Natur beschäftigt, hat häufig genug Gelegenheit zu beobachten, daß nach dem dritten Jahre, in welchem die Vermehrung der Kerfe die höchste Stufe erreicht hatte, ein so plötzliches Verschwinden derselben eintritt, daß es im vierten Jahre kaum gelingt, an den Orten auch nur einen einzigen zu finden, wo man das Jahr vorher bei jedem Schritte auf sie trat. Wir selbst, „die Herren der Erde“, stehen den kleinen Insecten kraftlos gegenüber, wir sind nicht im Stande, es im Kampfe mit jenen Hauptfeinden unserer Culturpflanzen aufzunehmen. Die Natur selbst aber besitzt Mittel mancherlei Art, Insectenschäden vorzubeugen und abzuhelfen, wie wir gesehen haben.

Aus diesen kurzen Bemerkungen ergiebt sich deutlich genug, wie weit solche Möglichkeitsberechnungen von der Wirklichkeit entfernt bleiben. Tausendfache Gefahren bedrohen das Individuum, welche mit der Entwickelung desselben beginnen und erst mit dem Tode aufhören. Wir können unsere Meinung nur wiederholen: daß die Ueberführung des Kartoffelkäfers nach Deutschland keineswegs gleichbedeutend ist mit Vernichtung des deutschen Kartoffelbaues, und daß das Furchtgeschrei, das durch die Zeitungen lief, mehr oder weniger als unberechtigt anzusehen ist. Wir können mit Sicherheit annehmen, daß der Kartoffelkäfer ebenso wenig die Grenzen der Vermehrung überschreiten kann, als irgend ein anderes Insect, ferner daß er der Landwirthschaft nicht mehr Schaden zufügen wird, als mancher andere Kerf. Der Kartoffelkäfer ist ebenso den Naturgesetzen unterworfen wie jedes andere Lebewesen.

Es können Jahre eintreten, in denen er der Kartoffelcultur sehr nachtheilig wird, aber er wird ebenso wenig den Kartoffelbau aufheben, wie etwa die Erdflöhe (Haltica) den Rapsbau, die Hessenfliege (Cecidomyia destructor) den Weizenbau, der Schildkäfer (Cassida nebulosa) die Rübencultur etc. Ueberhaupt werden so große Insecten wie der Kartoffelkäfer, zumal wenn sie wie dieser frei auf Blättern leben und nicht verborgen in der Pflanze oder in der Erde, fast nie sehr gefährlich: sie sind den Feinden und der Witterung stets ausgesetzt. Am gefährlichsten sind im Allgemeinen die kleinen versteckt lebenden Insecten, z. B. die Borkenkäfer (Bostrychus). Die amerikanischen Berichte über die Gefährlichkeit des Käfers sind wohl als etwas übertrieben anzunehmen. Ferner ist es ja auch nicht unmöglich, daß dort die Bedingungen zur Vermehrung günstiger sind: besseres Klima, weniger Insectenfresser etc. So soll nach Berichten auch die schon oben erwähnte Hessenfliege in Amerika Verwüstungen angerichtet haben, wie sie in Deutschland von diesem Thiere bis jetzt nicht bekannt geworden sind. Die Weizenmücke (Cecidomyia tritici), welche dann und wann in Deutschland am Weizen etwas Schaden gemacht hat, soll in den Jahren 1828 bis 1831 in Nordamerika den Weizenbau fast untergraben haben. Dieses Insect brachte allein dem Staate Maine einen Schaden von einer Million Dollar, und im Staate Ohio wurde die Frage aufgeworfen, ob gegenüber den Verwüstungen dieses Insectes der Weizenbau nicht lieber ganz aufzugeben sei.

Wir erblicken in dem Kartoffelkäfer gewiß keinen willkommenen Gast, aber auch keinen so gefährlichen Feind, als welcher er im Allgemeinen geschildert wird. Wie sollte denn ein einziger Kerf eine Culturpflanze so ganz und gar vernichten können? Die deutsche Kartoffelpflanze steht ja in dieser Beziehung bis jetzt so glücklich da, wie fast keine andere Culturpflanze. Sie hat fast keinen nennenswerthen thierischen Feind. Ganz unbedeutenden Schaden verursachen mitunter die Tausendfüße (Iulus), Drahtwürmer (Larven von Elater segetis und obscurus), Engerlinge (Larven von Melolontha vulgaris) und einige andere Insecten.

Wie ganz anders steht es in dieser Beziehung mit unseren anderen landwirthschaftlichen Culturpflanzen! Betrachten wir einmal den Raps. Zwanzig und mehr Feinde bedrohen ihn. Die Wurzel des Raps wird benagt von einer Rüsselkäferlarve (Ceuthorhynchus sulcicollis) und von der Made der Kohlfliege (Anthomyia brassicae), – der Stengel hat von der Larve des Rapserdflohs (Psylliodes chrysocephala) und von der Larve des Rapsmauszahnrüßlers (Baridius chloris) zu leiden, – die Blüthen sind namentlich dem Fraß des Rapsglanzkäfers (Meligethes aeneaus) und seinen Larven ausgesetzt, – die Rapsschoten werden oftmals sehr zugerichtet von den Larven der Kohlgallmücke (Cecidomyia brassicae) und der Raupe des Rübsaatpfeifers (Botys margaritalis), – die Blätter werden

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_524.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)