Seite:Die Gartenlaube (1877) 500.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


aus der Hausthür treten und die Straße hinauf gehen; ich bemerkte, daß die Blondine sehr hübsch war.

Ich hatte mit so viel Discretion wie möglich mich da und dort erkundigt, wer das melancholische Haus bewohne – Niemand wußte es.

Um diese Zeit erhielt ich einen Brief von der Mutter meines besten Freundes. Sie bewohnte ein kleines Landhaus nicht sehr weit von Dinant, aber doch schon ganz in den Ardennen; es war eigentlich mehr ein verschönertes Bauernhaus, als ein Landhaus zu nennen. Etwas Feld und Wiesen und ein Stück Wald gehörten dazu, und von dem mäßigen Ertrag dieses kleinen Besitzthums lebte die kluge und herzensgute Frau.

Ihr Sohn, Henry Flomberg, der schon früher eine außerordentliche Befähigung für Musik und Mathematik gezeigt hatte, spielte die Violine wie ein Künstler und kannte die Astronomie wie ein Gelehrter. Musik und Astronomie, haben sie nicht eine innere Verwandtschaft? – Henry war neunundzwanzig Jahre alt geworden, ohne eine eigentliche Stellung zu haben. Er war zwar als Aspirant am Observatorium aufgenommen worden, allein ein Bändchen, welches er herausgab und in dem er mit wissenschaftlichen Anhaltspunkten die Ueberzeugung aussprach, daß nicht nur alle Planeten unseres Sonnensystems, sondern auch jene aller anderen Sonnensysteme bewohnbar und folglich, wenn auch von verschieden organisirten Wesen, bewohnt seien, war ihm nachteilig geworden.

Die Gelehrten fanden es anmaßend von einem jungen Manne, gescheuter als die Alten sein zu wollen, und obschon sie die Möglichkeit zugaben, daß die Sterne bewohnt seien, so sagten die Einen doch, Flomberg sei nicht der Erste, welcher diese Ansicht gehabt, und er habe nur Anderen nachgeredet; ein anderer Theil der Gelehrten erklärte seine „Bewohntheit der Welten“ für eine phantastische Arbeit, welcher höchstens ein literarischer Werth zuzuerkennen sei. Die Geistlichkeit, in deren schwarzem Mantel die gebildete Gesellschaft gleich einem Kinde im Tragbette eingewickelt war, verdammte den „verwegenen Ketzer“, der sich vermaß, eine Theorie aufzustellen, welche den Gesichtskreis der Menschen erweitern und sie aus dem herkömmlichen Geleise auf höhere Bahnen führen wollte. Henry, von der einen Seite ignorirt, von der andern angefeindet, verließ Belgien und begab sich nach Italien und von da nach Spanien. Er war etwa seit drei Jahren abwesend, als seine Mutter mir schrieb:

„Henry schreibt mir von England, von London, wo er sich verlobt hat. Er sagt mir nicht, wer die Familie seiner Braut ist, noch irgend etwas, das mich befriedigen könnte; er spricht nur von ihrer Schönheit und zwar mit einer Begeisterung, die mich fürchten läßt, mein geistvoller Sohn habe einen dummen Streich gemacht. Schon in vier Wochen will er sich verheirathen. Haben Sie vielleicht eingehendere Nachricht von ihm? etc.“

Der letzte Brief, den ich von Henry erhalten hatte, war von Barcelona datirt; von seinem Aufenthalt in England hatte ich keine Ahnung gehabt. Die Befürchtung seiner heitern und außerordentlich klugen Mutter steckte mich an; meine Freundschaft für Flomberg. den ich seit frühester Jugend kannte, war keine oberflächliche; die Ereignisse seines Lebens waren mir stets so nahe gegangen, wie die meines eigenen Lebens. Ich war in einer unabhängigen Stellung; ohne nur eine Stunde zu zögern, ließ ich meinen Paß visiren, packte einen kleinen Koffer und reiste mit der Abendpost nach Ostende, wo ich mich einschiffte. Ich mußte die Braut sehen, ehe sie seine Frau wurde.

Flomberg war sehr erstaunt, mich in London zu sehen; ich schützte als Grund meiner Reise ein Kopfleiden vor, gegen welches mir Luftveränderung verordnet worden sei. Henry's äußere Erscheinung war unverändert geblieben; sein krauses, nußbraunes Haar hatte noch den wunderbaren Glanz, der Jedermann auffiel, und wenn er mit seinen weichen Fingern im Gespräche durch die lockigen Büschel fuhr, so hörte ich, wie früher, ein elektrisches Knistern. Sein lang geschnittenes, grau-grünes Auge hatte noch den eigenthümlichen Schimmer und den beherrschenden Blick, und im Lächeln seines Mundes fand ich noch jenen gutmüthigen Zug, von welchem seine Mutter zu sagen pflegte, er habe ihn mit auf die Welt gebracht.

„Du hast wohl durch meine Mutter erfahren, daß ich mich verlobt habe,“ sagte er heiter. „Meine Braut ist eine zweiundzwanzigjährige Wittwe, classisch schön und immer schön. Morgens, Mittags, Abends, immer ist sie schön. Du mußt sie kennen lernen; ich werde Dich zu ihr führen. Weißt Du, wem ich meine Braut verdanke? Der Insel Wight – dort fand ich sie, am Strande auf und ab gehend. Ihr vom Bade noch feuchtes Haar floß in dicken Strähnen auf den weißen Flanellmantel, der sie sackartig umschloß. Du wirst zugeben, daß nur eine Göttin in einem solchen Costüme schön zu sein vermag.

Am folgenden Tage führte er mich zu ihr. In einem reich ausgestatteten Salon, welcher nicht das geringste individuelle Interesse bot, saß in einem Schaukelstuhle die „Göttin“. Sie reichte Henry die Hand zum Kusse, eine schöne, wohlgepflegte Hand, und lud mich ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Mistreß Stephenson war groß und von vollendeter Körperform; ihr Gesicht hatte den griechischen Typus. Ich bekenne, daß ich kein Verehrer der griechischen Schönheit bin, das heißt, ich bewundere sie in der antiken Statue, allein ich bewundere und liebe sie nicht in der modernen, in der lebenden Frau, denn sie schließt die Individualität aus.

Mistreß Stephenson's Haar hatte die Farbe eines Goldstückes, welches viel Kupfer enthält, und war mit Sorgfalt in großen Schleifen mit einem Perlmutterkamm nach der damaligen Mode hoch aufgesteckt. Ueber dem linken Ohre tauchten zwischen den Haarschleifen purpurrothe und grüne Bandschleifen empor. Sie trug ein hartblaues Kleid, in welches bunte Blumen eingewirkt waren; an ihren Ohren, an den Armen und Fingern und am Halse schimmerten goldene Ringe und Ketten. Es lag, trotz dieser entsetzlichen Toilette, ein unbestreitbarer Farbenreiz in ihrer Erscheinung; ihr Gesicht, ihre Augen und ihr Haar waren wirklich Lilien und Rosen, Sapphiren und dem edlen Golde vergleichbar. Allein schöne Farben und regelmäßige Züge waren auch alles, was diese Frau besaß; sie war eine rein animalische Schönheit; ihr Gesicht war leer, ohne jede Spur geistigen Lebens. Wenn sie lächelte, machten mir ihre gesunden, weißen Zähne stets den fatalen Eindruck, als lechzten sie nach einer Hammelcotelette. Selbst ihre Finger waren animalisch, rund und träge und ohne jeden seelischen Accent.

„O Mutter Flomberg,“ dachte ich, „dein Sohn hat einen dummen Streich gemacht.“

Je näher ich Mistreß Stephenson kennen lernte, desto mehr fand ich mein erstes Gefühlsurtheil über sie bestätigt. Aber er, Henry, erkannte er denn ihre Geistesarmuth nicht? Fühlte er nicht die Nüchternheit, die Dürftigkeit ihres Gemüthes? Konne diese schön angestrichene Puppe ihn glücklich machen? Hatte er gar keine Angst? Es schien mir so völlig unbegreiflich, daß sich eines Tages der Verdacht in mir regte, Henry, dessen väterliches, ihm von der Mutter überlassenes Vermögen unbedeutend war, sei für Mistreß Stephenson's Vermögen nicht unempfindlich und dieses habe ihn zu einer Verbindung mit ihr verführt. Allein ich kannte seine einfache, beinahe bedürfnißlose Lebensweise und die Noblesse seines Charakters; auch hatte ich bald Gelegenheit zu erfahren, daß Mistreß Stephenson nicht eigentlich reich sei.

Es war unmöglich, daß Henry diese Frau liebte, er täuschte sich über seine eigenen Gefühle. Wie hoch hatte er früher das Ideal gestellt, das er lieben könnte! Wie oft hatte er, wenn ich ihm ein hübsches Mädchen zeigte, achselzuckend zu mir gesagt: „Eine hübsche Puppe, weiter nichts!“

Und Mistreß Stephenson, liebte sie ihn? Konnte diese Frau ihn lieben? Er war nicht groß, nicht stattlich; seine Gestalt war fein und nervös; der Reiz seiner Person war geistiger Art, und dafür hatte Mistreß Stephenson gar kein Organ. Warum wollte sie ihn heirathen? Er hatte keine Stellung und war in seinem Lande angefeindet. Heirathete er Mistreß Stephenson, so war er nach sechs Monaten ein unglücklicher Mann, ja, er war im Stande, seine Frau zu hassen. Aber wie ihm die Augen öffnen? Mit unendlicher Vorsicht ließ ich dann und wann einen kleinen Zweifel über sein künftiges Glück laut werden. Nie hatte ich in seiner Braut auch nur das geringste Interesse für seinen Geist, für seine Wissenschaft, ja kaum für seine Violine entdeckt. Ich hatte sie gähnen sehen, als er die Geige spielte und langgezogene, bebende Töne ihr entlockte, die heiß wie glühende Tropfen in mein Herz fielen. Die Geige wurde in seinen Händen eine Seele, und seine Braut – gähnte!

Ich sagte es ihm später; er lachte und sagte unbefangen: „Harriet liebt die heitere Musik. Wenn ich ihr den 'Carneval von Venedig' spiele, ist sie glücklich.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_500.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)