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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 30.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Charlotte Venloo.
Von E. Werber.[1]


Die meisten Häuser alter und neuer Städte sagen uns weiter nichts, als: Ich habe eine Thür und so und so viele Fenster. Einige sagen uns: Ich bin von Adel; oder: Ich bin schön; oder: Ich bin Millionen werth. Es giebt noch einige andere – sie sind selten – diese besitzen mehr als vornehme Herkunft, mehr als Reichthum und mehr als Schönheit, sie haben eine Seele; sie durchathmet Stein und Mörtel und zieht uns an wie ein Magnet.

Ein solches Haus befindet sich in einer der engsten Straßen von Brüssel, welche hinter der Universität in sanfter Steigung sich zum höhern Terrain hinanzieht. Jenes Haus ist sehr breit und hoch, so hoch, daß man, um den Ansatz des Daches zu sehen, den Kopf ganz auf den Nacken legen muß. Es hat, abweichend von der Bauart der alten brabantischen Häuser, keinen Giebel; eine Reihe niederer, eng beieinander stehender Fenster bildet gleichsam ein durchgittertes Fries, denn sie liegen dicht unter dem Dache. Dann kommt ein großer Zwischenraum, ein Zwischenraum, welchen bequem ein Stockwerk ausfüllen könnte. Noch tiefer und nicht ganz aus der Mitte der Façade tritt einsam und schwermüthig ein Erker mit sechs hohen Spitzbogenfenstern hervor, deren Einfassung sich zu einem Bündel schlank aufstrebender Säulen vereinigt. Diese sind von einer steinernen, mit halbverwischten Farben bemalten Blumenkrone zusammengehalten, aus welcher die Enden der Säulen, gleich versteinerten Straußenfedern, sich anmuthig niederbeugen. Unter diesem Erker befinden sich drei breite vergitterte Fenster und die Hausthür von dunkelem Eichenholz; sie hat zwei Flügel, jeder in fünf horizontale geschnitzte Felder getheilt, und einen vergitterten maurischen Fensteraufsatz, über welchem ein Wappen eingehauen ist, das ein geschlossenes Visir und zwei Löwenköpfe enthält. Der dunkelgraue Mörtel, welcher das Haus bedeckt, zerbröckelt da und dort und läßt den röthlichen Stein sichtbar werden.

Wer entschlossen wäre, gegen einen tiefen, unheilbaren Gram nicht mehr anzukämpfen, sondern in stolzer Ergebenheit sich mit ihm von dem Geräusch des Lebens abzuschließen, müßte, sähe er jenes Haus, sich sagen: „Dieses Haus ist vor dreihundert Jahren für mich gebaut worden; hier will ich wohnen.“

Im Jahre 1825 wohnte ich dem eben beschriebenen Hause gegenüber. Als ich am Morgen nach meiner Ankunft die Vorhänge meines Fensters zurückzog und das bizarre Haus mit seiner melancholischen Façade erblickte, faßte es mich wie eine Art Schwindel; der Erker war der einzige Ruhepunkt für mein Auge. Blaßgrüne, schwere Gardinen flossen, dicht zusammengezogen, an seinen Fenstern nieder; unter der steinernen Blumenkrone nisteten Schwalben. Ich weiß nicht, wie es kam – ich dachte plötzlich, hinter diesen finstern Mauern müsse es himmlisch sein, mit einem geliebten Wesen zu leben, so ganz verborgen, ganz verloren. –

Dieses Haus war für mich nicht ein Gegenstand der Neugierde, sondern einer wirklichen seelischen Unruhe. Stundenlang stand ich, gleich einem Eifersüchtigen, hinter meinen Mousselin-Vorhängen und spähete nach einer Bewegung der grünen Gardinen. Endlich, nach einer Woche, sah ich etwas. Ich schrieb; plötzlich, wie auf einen inneren Ruf, blickte ich zum Erker hinüber: zwischen zwei von weißen Händen auseinander gehaltenen Gardinen stand eine zarte Frauengestalt und blickte mit großen, schwarzen Augen zum Himmel hinauf. Schwarz war auch ihr Haar und ihr Gewand. Ein sanfter Mund lag wie eine stumme Klage zwischen ihre blassen Wangen gebettet. Dieses Gesicht, vom reinsten Oval, hatte, wie das Haus, eine Seele. Es fiel mir nicht ein, die Linien ihrer Stirn oder ihres Mundes oder sonst eines Zuges zu prüfen – es war so zu sagen nicht nothwendig, um ihr Gesicht zu kennen, das ganz Inhalt war. Ich bemerkte, daß ein blondes Köpfchen, in etwa gleicher Höhe, neben dem ihrigen sichtbar wurde. Wahrscheinlich schaute die Blondine auch zum Himmel hinauf, aber ich sah es nicht. Die Andere fesselte mich ganz. Wie lange sie Beide am Fenster standen, weiß ich nicht; sie verschwanden hinter den zusammenfließenden Vorhängen gleich Nixen, die in’s Wasser zurücktauchen.

Etwa eine Stunde später rasselte ein Reisewagen die Straße herab und hielt vor dem Hause mit dem Erker. Das Herz bebte mir: „Sie wird doch nicht verreisen?“ dachte ich und trat an’s Fenster. Gleich darauf öffnete sich die Hausthür; zwei Koffer wurden herausgetragen und auf den Wagen geladen. Ein alter Mann trat aus der Thür, und ihm folgte sie, die Schwarze, in einen langen Mantel gehüllt. Sie stiegen Beide in den Wagen, welcher ohne weitern Aufenthalt fort fuhr. Unter der Hausthür standen die Blondine und eine ältliche Frau, welche sich die Augen mit einem weißen Tüchlein trocknete. Ich sank auf einen Stuhl; mir war, als seien meine Kniee gelähmt.

Hätte ich mich in ein Wesen verliebt, das ich vielleicht nur eine Secunde sah? Warum nicht? Und dennoch schien es mir, als sei ich nicht in sie verliebt; ihre Erscheinung und die Erinnerung daran gaben mir eine Empfindung, ähnlich der, welche Sterne von großer Lichtgewalt in uns erwecken – eine Mischung von Verlangen und Scheu.

Einige Wochen vergingen; die blaßgrünen Vorhänge am Erkerfenster hingen regungslos nieder, wie stehen gebliebene Wasserfälle. Zweimal sah ich die Blondine und die ältliche Frau

  1. Verf. von „Eine Leidenschaft“ und „Ein Meteor“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_499.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)