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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Graf von Chambord wird eher die Republik des Herrn Gambetta als die Monarchie eines Orleans anerkennen. Ich bin kein persönlicher Feind der Orleans; ich habe, als das Decret der Confiscation ihrer Güter erschien, mein Portefeuille niedergelegt. Ich schätze ihre hohen bürgerlichen Tugenden, ihren Familiensinn, ihre Selbstbescheidung; es ist beinahe rührend, daß sie in den Februartagen, anstatt die afrikanischen Regimenter aufzubieten, mit Resignation ihre Koffer packten. Die Orleans wären gewiß die besten und geliebtesten Herrscher eines kleinen deutschen Fürstenthums, aber damit erobert man nicht den französischen Thron. Denn diese Orleans sind nicht Fisch, nicht Fleisch: sie wollen Bourbons sein, zur alten Familie gehören, sie müssen aber die Revolution anerkennen; sie feiern den Geburtstag Heinrich’s des Vierten und den von 1789.“

„Wer weiß,“ meinte die Fürstin, „wenn die Orleans die vierzig Millionen, die sie reclamirten, sofort nachdem sie ihnen ausgezahlt wurden, auf den Altar des Vaterlandes gelegt hätten?“

Rouher lächelte, nahm einen Schluck Thee und fuhr dann fort: „Es war unerhört und für ihre Partei beschämend, daß die Orleans, deren colossaler Reichthum ja sprüchwörtlich ist, vierzig Millionen vom Lande requirirten in dem Augenblicke, als es fünf Milliarden zu zahlen hatte. Ein Gentleman, der Herzog von Broglie, drang darauf, daß in dem Augenblicke, wo die Nationalversammlung die vierzig Millionen ihnen zusprach, der Herzog von Aumale auf der Tribüne erscheinen und sie auf den Altar des Vaterlandes legen sollte. Aber in der Rue Lafitte wurde ihnen widerrathen, und sie befolgten um so lieber den Rath des Herrn von Rothschild, als er ihren Wünschen entsprach. Und am Ende hat Rothschild Recht,“ schloß Rouher, „wenn die Orleans auch vierzig Millionen eingezahlt hätten – ihre Actien standen doch nicht besser.“ –

Die Rückkehr des Kaiserreichs glaubt und sieht der größte Theil Frankreichs, mit Ausnahme jener alten, ewig jungen Doctrinäre, die so lange nicht sehen und hören und immer mitten am Wege lümmeln, bis ihnen die Thatsache auf die Hacken tritt und sie das Geschehniß am Kragen faßt. Dem Bauer ist ein Napoleon der Gespensterbanner, des „weißen“ wie des „rothen Gespenstes“, des ancien regime und der Anarchie – ihm flaggt die weiße Fahne ebenso bedrohlich wie die rothe. Das war ihm der große Kaiser; das war ihm Napoleon der Dritte, dem er noch die Vicinalwege dankt. Die große Handels- und Geschäftswelt gedenkt der außerordentlichen Vermehrung der Communicationsmittel, der großen ökonomischen Reformen, des außerordentlichen commerciellen Aufschwungs unter dem Kaiserreiche; die Hôteliers, die Restaurants, Alle, die vom Fremdenverkehre Reichthümer sammeln, vertiefen sich mit Wehmuth in ihre Geschäftsbücher aus der Kaiserzeit, in dessen „Haben“ sie ihre goldne Zeit schreiben, während sie den geringen Fremdenverkehr, den Ausfall des Adels aller Lande in das „Soll“ der Republik eintragen; Alle, die Confectionsgeschäfte, die Blumenhändler, die Bijoutiers der rue de la paix wie die Fabrikanten der pierres de Strasses, die Conditoreien, die Schneider, die Spitzenhändler schwelgen in der Erinnerung der glänzenden Feste in den Tuilerien, welche die Aristokratie Europas heranzogen und Geld „unter die Leute“ brachten; die Arbeiter gedenken der Erweiterung von Paris, der Um- und Neubauten, der hohen Löhne unter dem Kaiserreiche, die Börse der hohen Course, die Hausbesitzer der hohen Zinse, die Hôteliers der hohen Preise – Alles das erhofft, ersehnt das Kaiserreich und glaubt an dasselbe – dazu die Armee! Die Veteranen der Krim und die Helden von Solferino, die Officiere, welche neue Epauletten und neue Siege ersehnen, die Generäle, welche lieber heute als morgen das ganze „geschwätzige parlamentarische Gesindel“ heimjagen möchten; die Präfecten, die Unterpräfecten und all die Beamten, welche die Republik blank gemacht hat und die besser als alle Andern die Opposition in der Provinz präpariren und organisiren und drillen, dann diejenigen, welche Frankreich bei seinem so mächtig ausgebildeten Classensystem, als die einzige Republik in Europa, für einen Unsinn erklären und in seiner Staatsform die Ursache suchen und sehen, daß Frankreich im monarchischen Europa keine Alliancen finden und im europäischen Concert seinen Platz nicht mehr erringen kann; dazu all die Erwerbenden, Besitzenden, welche die Aufregung, die Beunruhigung des Wechsels der Präsidentschaft schreckt und in Athem hält, dazu die Pfaffen, die Advocaten ohne Clienten, die Aerzte ohne Patienten, die Kaufleute ohne Kunden, der große Troß der Abenteurer – sie Alle erhoffen, ersehnen und – machen auch schließlich das dritte Kaiserreich.

Von den Häuptern der Bande, welche in das große Geheimniß des auf vier Jahre gewählten Präsidenten eingeweiht war und die ihm half, in der Nacht vom 1. zum 2. December Anno 1851 die Nationalversammlung zu sprengen, um die Republik zu knebeln, ist Keiner mehr übrig. Alle sind sie dem Herrn und Meister vorangegangen in den Tod; der Erste und Kühnste, Morny, 1865, dann Walewski 1868 und Persigny 1872. Rouher ist heute der Hüter des Napoleonischen Ideenschatzes, der Generalstäbler der Imperialisten-Campagne, und er fühlt sich mehr denn je als Vicekaiser. Rouher genoß das uneingeschränkte Vertrauen des Kaisers wie kein Zweiter, mit Ausnahme seines Halbbruders Morny. Dieser war aber auch der eigentliche Mann der That des Kaiserreiches; voll energischer Actualität, rücksichtslos, brutal in der Wahl seiner Mittel und Werkzeuge hat er auch den Staatsstreich geleitet und ausgeführt. Er besaß den feinen Instinct und die geniale Rücksichtslosigkeit der Bastarde. Aber von den Morny’s, Walewski’s und Persigny’s scheidet Rouher eine weite Kluft, sein durchaus makelloser Charakter. Für ihn war das Kaiserreich keine gefällige Milchkuh, um seine Schulden zu zahlen, seine Maitressen auszuhalten und Reichthümer zu häufen, und selbst die schärfste Opposition machte vor seinem Charakter Halt.

Rouher ist aber auch ein reinlicher Mann, der stets einen Abscheu hatte vor der buntgewürfelten Gesellschaft und unsauberen politischen Bohème, Bekannten und Genossen des Chefs aus alten Zeiten, die aus Dankbarkeit, ewiger Rücksicht und ängstlicher Vorsicht Zutritt in die Tuilerien hatten; auch wäscht sich Rouher, wie versichert wird, nach jeder Sitzung ganz gründlich, sobald er bemüßigt war, mit den Herren Cassagnac und Gavardi einen Händedruck zu wechseln. Das „Pays“ des Herrn Paul Cassagnac ist nur der journalistische Köter der Partei, dessen Bellen zeigt, daß die Bonapartisten sich wieder in den Sattel schwingen; der „Gaulois“ ist eine in’s Bonapartistische übersetzte sehr schlechte Copie des „Figaro“, dessen Mitarbeiter Herr Tarbée war, aber „l’Ordre“, das Organ Rouher’s, ist der Moniteur der Imperialisten.

Rouher zählt jetzt dreiundsechszig Jahre. Er ist ein vollkräftiger kerngesunder Mann; das Alter beginnt ihn nur in Form von Fett zu drücken, welches er in großen Massen in den letzten Jahren aufgestapelt hat. Er nimmt nur selten das Wort, auch ist er kein großer Redner im Sinne von Dufaure oder von Gambetta; weder die hochtönenden Worte noch die rührenden Laute stehen ihm zur Verfügung. Rouher besitzt nicht das die Zuhörer mitreißende oder einschüchternde Temperament, noch findet er sich im Ton der Plauderei zurecht, wie ihn Thiers so meisterhaft und bestrickend anzuschlagen weiß, aber man fühlt sofort, wenn er spricht, daß er Einer ist; der Etwas zu sagen hat. Er vertheidigt seine Sache kalt, ruhig; keine auch noch so lärmende Unterbrechung, keine noch so persönliche Apostrophe bringen ihn aus dem ruhigen Geleise. Er läßt die Schreier toben, die Parteien sich gegenseitig die größten Insulten zuheulen und steht, gelassen die Hände in den Hosentaschen, gemächlich an die Estrade des Präsidenten gelehnt, bis der Sturm vorüber ist; er ist nie um Argumente verlegen und nimmt sie, wo er sie findet, selbst vom Gegner und heute auch solche, die er gestern verwarf. Sein rednerisches Geschick bewies er wiederholt unter dem Kaiserreich, wenn er gegen Olivier, gegen Garnier-Pagès oder gegen Thiers vom Leder ziehen mußte, wenn es galt den Handelsvertrag mit England, welcher der Handelsfreiheit die Wege bahnte, gegen die Schutzzöllner zu vertheidigen oder die Angriffe auf die unglückliche Mexicanische Expedition abzuwehren oder Herrn Thiers über die Neutralität Frankreichs während des deutsch-österreichischen Krieges zu beruhigen. Aber Meisterstücke ganz anderer Art waren seine Reden, die er gegen den Prinzen Napoleon halten mußte. Er glich Tell, der den Apfel herabschießen mußte ohne den Knaben zu verletzen; es galt den Prinzen in den Sand zu strecken, ohne dem Kaiserreich weh zu thun. Es ging damals die Sage, daß Rouher für solche Arbeit vom Kaiser stets eine Extralöhnung im Betrag von zwanzigtausend Francs erhalte. Die Unwahrscheinlichkeit derselben leuchtet sofort ein, wenn man weiß, daß Rouher es war, der den Kaiser veranlaßte dem Prinzen die Tribüne zu verbieten, und Rouher ist ein sehr sparsamer Mann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_497.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)