Seite:Die Gartenlaube (1877) 492.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Pfennig. Es sind uns noch wenige Vagabunden vorgekommen, deren Baarschaft, die selbstverständlich immer aus einzelnen Kupfermünzen besteht, mehr als eine Mark betrug. – Und trotz dieser Noth ist es doch höchst merkwürdig, daß es unter ihnen so außerordentlich Viele giebt, die in ihrer Armuth sich nicht durch Diebstahl, Betrug oder Raub, wozu ihnen ja oft genug Gelegenheit geboten ist, Geld zu verschaffen suchen, daß es so Viele giebt, die lieber zwei Tage ohne Essen und ordentliches Nachtlager zubringen, als stehlen. Allerdings ist die Zahl derjenigen Legion, die, wenn sie an einem augenblicklich verlassenen Bauernhause vorbeikommen, einen kühnen Griff in den Rauchfang oder Hühnerstall thun, die Vorbestrafungen Vieler lauten aber immer nur auf „Zwei Tage wegen Bettelns; Acht Tage wegen Landstreichens; Ein Tag wegen Führung eines falschen Legitimationspapieres; Zehn Tage wegen Bettelns und Landstreichens“ und schließlich „Sechs Wochen wegen Landstreichens und zwei Jahre Correctionshaus“. Correctionshaus! Das ist für den Vagabunden das Traurigste, was ihm widerfahren kann. Er wird in diesem zu regelmäßiger Arbeit gezwungen und ihn überfällt ein Frösteln, erinnert er sich an den Zwang zur Arbeit. Sieht er nach seiner Verhaftung ein, daß ihm Correctionshaus droht, so wendet er alle möglichen Mittel auf, um der Unterbringung in die Besserungsanstalt oder, wie der technische richterliche Ausdruck lautet, der „Ueberweisung an die Landespolizeibehörde“ zu entgehen.

Wenn ich nun hier einen Menschen der beschriebenen Gattung vorführe, so muß ich zunächst noch eine erläuternde Bemerkung vorausschicken. Die meisten Vagabunden geben bei der Verhaftung in der Regel gleich ihren richtigen Namen an. Nur leugnen sie Alle, daß sie schon jemals bestraft seien. Wenn man dann bei der Polizeibehörde ihres Heimathsortes, die gesetzlich von jeder Verurtheilung benachrichtigt werden muß, Auskunft einzieht, so trifft ein Auszug aus dem schwarzen Buche ein, der alle Vorbestrafungen kurz enthält. Wird der Auszug dem Vagabunden vorgelesen und er befragt, ob er diese Strafen schon erlitten habe, so giebt er sie gewöhnlich ohne Weiteres zu, oft mit sehr drastischen Aeußerungen, z. B.: „Wenn Sie es wissen, was fragen Sie mich danach?“ Nach der Zahl und Art dieser Strafen richtet sich dann natürlich die Verurtheilung, und scheint der Vagabund nach den Vorstrafen wieder etwas Correctionshaus nöthig zu haben, so wird er zu der Abführung in dasselbe verurtheilt. Die Möglichkeit der Heilung ist ja nicht ausgeschlossen, und jedenfalls wird er wieder auf einige Zeit für die menschliche Gesellschaft nützlich gemacht oder doch letztere von ihm befreit.

Wie wichtig also die Vorstrafen, das wissen die Intelligenteren unter den Vagabunden ganz genau, und um den Folgen einer Bekanntwerdung ihres früheren Lebenswandels zu entgehen, geben sie sich ab und zu einen falschen Namen. Dann schreibt sich der Polizeirichter, dem die Aburtheilung des Vagabunden obliegt, die Finger lahm, um herauszubekommen, wie der Mann heißt. Bleibt der Vagabund hartnäckig bei der Verschweigung, so ist nichts zu machen; er kann doch nicht ewig in Untersuchungshaft sitzen, wird also endlich unter falschem Namen verurtheilt und zieht nach verbüßter Haft fröhlich seiner Wege. Zu einer Ueberweisung an die Landespolizei konnte er nicht verurtheilt werden, weil dieses erst bei Rückfall angebracht erscheint, ein Rückfall aber eben nicht constatirt worden ist. Natürlich werden alle Hebel angesetzt, damit der Vagabund den Richter nicht derartig nasführt – es könnte ja auch sein, daß man einen gefährlichen, längst gesuchten Verbrecher vor sich hat –, aber was hilft's, wenn der Untersuchungsgefangene sich nicht selbst verräth! Die Mühe, die ein solcher Namenloser dem Vagabundenrichter macht, soll Folgendes veranschaulichen.

Eines Tages – es war im April – brachte der berittene Gensd'arm in B. einen Menschen zu mir, dem Polizeirichter. Er hatte ihn bei einer Revision der Herberge im Städtchen ohne Legitimationspapiere angetroffen und deshalb festgenommen. Der Vorgeführte war ein hübscher, kräftiger, blonder Mensch mit einer Adlernase, starkem Schnurrbart und glatt rasirtem Kinn, in der Mitte der Vierziger. Obwohl auf den ersten Blick in ihm der Vagabund zu erkennen war, zeigte doch sein ganzes Auftreten, daß er keineswegs zu den verkommenen seines Zeichens gehörte, und hätte er nicht ab und zu einen ganz gefährlichen Blick, der schärfste Beobachtung verrieth, aus den klugen Augen entsendet, so wäre man versucht gewesen, ihn für einen harmlosen, biederen Menschen zu halten[WS 1]. Auch der Wachtmeister schien besorgt zu sein, daß der Mann für ungefährlich gehalten werden möchte; denn nachdem er ihn im Amtszimmer abgeliefert und ein Gerichtsdiener die Bewachung übernommen hatte, trat er an mich heran und sagte leise:

„Das ist ein ganz verfluchter Kerl; hinter dem steckt etwas.“

„Weshalb nehmen Sie das an?“

„Gründe habe ich nicht; das ist so mein Verdacht. Ich empfehle mich.“

Nachdem ich einige dringende Geschäfte erledigt hatte, begann die verantwortliche Vernehmung.

„Wie heißen Sie?“

„Jan van den Bruck.“

„Wo geboren?“

„Breda, Brabant.“

„Wann sind Sie geboren?“

Der Vagabund legte die Hand hinter das Ohr, als ob er die Frage nicht verstanden hätte. Als sie wiederholt wurde, sagte er in holländischer Sprache, daß er das Deutsche nur sehr schwer verstehe, weil er ein Niederländer sei. Da auch ich vom Holländischen nicht viel wußte, so wurde ein in der Nähe wohnender Dolmetscher herbeigeholt, und diesem erklärte er sodann, er sei zweiunddreißig Jahre alt, sei mit dem zwanzigsten Jahre aus dem Elternhause fortgelaufen und habe „in der Ost“ auf Java Dienst genommen. Er sei zwölf Jahre lang Soldat gewesen, habe in Atchin gefochten, die Tapferkeitsmedaille erhalten und sei dann nach Europa zurückgekehrt. Er komme geraden Wegs von Amsterdam und sei auf der Reise nach Serbien begriffen, wo es einen Aufstand gegen die Türken geben solle, um dort den Christen mit seinem Arme zu helfen. Seine sämmtlichen Papiere und seine ganze Baarschaft habe ihm unterwegs ein verruchter Handwerksbursche gestohlen.

Die ganze Erzählung wurde so flüssig und mit einem solchen Anscheine der Wahrheit vorgetragen, daß ich ihr unbedingt Glauben geschenkt haben würde, wenn mir nicht ein merkwürdiges Zucken um den Mund des Vagabunden aufgefallen wäre, das er ab und zu zeigte.

„Glauben Sie, Herr Schütz,“ fragte ich den Dolmetscher, „daß der Mann ein Holländer ist?“

„Das muß ich wohl,“ antwortete dieser, „obwohl es mir vorkommt, als spräche er mit etwas deutschem Accent.“

Als der Dolmetscher dies sagte, leuchtete es wieder im Gesichte des Vagabunden und seine bisher so friedliche Miene zeigte einen widerwärtigen, höhnischen Ausdruck. Ich hatte mit dem Dolmetscher schnell und leise gesprochen, aber der Mann hatte offenbar jedes Wort genau verstanden. Ich hielt ihm darauf eine lange Ermahnungsrede, oder richtiger, ließ sie ihm durch Herrn Schütz halten: er möge doch die Wahrheit in Bezug auf seinen Namen und seine Herkunft sagen, es würde in Breda schriftlich angefragt werden, ob er von dort herstamme, und wenn sich das nicht ergäbe, würde er nach langer, durch seine falschen Angaben verursachter Untersuchungshaft streng bestraft werden, aber es half nichts; er blieb hartnäckig bei seinen Behauptungen. Der Dolmetscher hielt ihm vor, er spreche ja nicht wie ein geborener Holländer, das veranlaßte ihn aber nur zu sagen, er könne viele Sprachen sprechen, und da möge sich der ursprüngliche Klang seiner Muttersprache etwas verwischt haben. Als der Dolmetscher das bezweifelte, begann er sofort eine lange Tirade im fließendsten Französisch, sprach dann einige Sätze, die er als malayisch bezeichnete, und bat uns schließlich noch an, er wolle uns eine Probe von seiner Kenntniß in dem Liplap-Dialekte geben, dem Mischmasch von Englisch, Holländisch und Malayisch, das die Javanesen sprechen. Wir verzichteten aber darauf, und nachdem wir festgestellt hatten, daß Herr Jan van den Bruck allerdings in Java gewesen sein konnte, ließ ich ihn abführen.

Als ich Nachmittags spazieren ging und mir schon mehrmals der Gedanke durch den Kopf geschossen war, was mit dem Menschen anzufangen sei – durch unsere Gesandtschaft in Breda Erkundigungen einzuziehen, verlohnte sich doch wohl nicht der Mühe – erblickte ich unsern Wachmeister, der eilig auf mich zukam.

„Herr Amtsrichter,“ sagte er, „denken Sie, da spreche ich eben den Uhrmacher Winter; der fragt mich, was für einen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: halteu
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_492.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2019)