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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


nur in Cleveland im Staate Ohio übertroffen gefunden. Philadelphia ist eine reiche, sehr reiche Stadt. Mit nicht viel weniger Einwohnern als New-York ist es, um mich geschäftlich auszudrücken, ein weit älter etablirtes Haus als dieses.

Es ist nicht erst, wie New-York, seit den dreißiger Jahren, durch den überseeischen Handel und die zeither aufgeschossene Börsen-Speculation emporgekommen, sondern hat sich nach und nach aus der Cultur seines reichen Umgebungslandes naturgemäß entwickelt. Philadelphia ist darum nicht wie New-York der finanzielle Knotenpunkt der Union, hat nur wenige Börsenmagnaten und keinen selbständigen Geldmarkt. Es ist in dieser Hinsicht eine Filiale von New-York, nach welchem sich alle seine Course richten. Dafür aber hat es den angestammten, angeerbten, Europa ähnlichen Wohlstand, welchen man hier zu Lande noch selten vorfindet. Es hat weder allzureiche, noch allzuarme Leute, also minder ungleiche Besitzvertheilung und somit einen zahlreichen, behaglichen Mittelstand. Kurz: Philadelphia beherrscht mehr die Production als die Speculation und wird deshalb nie so gute, aber auch nie so schlechte Zeiten haben, wie New-York, das des steten Zuflusses von außen bedarf, während jenes sich mehr durch sich selbst und die gegenseitigen Leistungen seiner Bewohner und Nachbarn ernährt. Darum ist es, milde ausgedrückt, drollig, wenn Philadelphia in neuerer Zeit versucht, den „Gernegroß“ zu spielen und New-York den Rang als Weltstadt abzulaufen. Es mag ihm gelingen und gelingt ihm wohl auch, gleich manchen anderen größeren Städten der Union, die Waareneinkäufe vom Inlande mehr und mehr an sich zu ziehen, aber seinen Hafen und sein sonstiges Naturell wird Philadelphia dennoch nicht ändern und somit niemals dem für den Welthandel günstiger situirten New-York gleichkommen. In seiner eigenen und ihm allein eigenthümlichen Weise wird es sich nichts desto weniger glänzend entwickeln, aber – „Eines schickt sich nicht für Alle.“

„Lieber Freund,“ werden meine geneigten Leser sagen – und Leser sind stets geneigt, denn wenn sie's nicht mehr sind, so hören sie auch auf zu lesen – „Lieber Freund, Sie kommen vom Hundertsten in's Tausendste; wir lesen jetzt schon seit einiger Zeit und wissen immer noch nicht, wo Sie eigentlich hinaus wollen.“ Nun, in die permanente Welt-Ausstellung will ich hinaus, und der Weg dahin ist in der That ein wenig zu weit, was nicht blos meinem Referate, sondern auch dem Besuche der Ausstellung überhaupt schadet.

Wir sind ohnehin bei Vielem stillschweigend vorüber geeilt und befinden uns nunmehr glücklich an Ort und Stelle. Uebrigens kann es hier nicht meine Absicht sein, Dinge zu beschreiben, die bereits unzählige Male beschrieben worden sind, und wer hätte nicht schon vorher zur Genüge durch Wort und Bild erfahren, wie der Ausstellungsplatz, die Gebäude und ihr Inhalt ihrer Zeit ausgesehen haben? Es kann sich also für uns nur um die zeitherigen Veränderungen und dabei auch wieder nur um die uns heute interessirenden handeln.

Das, was wir jetzt noch im Hauptgebäude von der vorjährigen Zauberpracht der großen Weltausstellung sehen, gleicht etwa einem Festsaale, wo Tags zuvor ein großes Banket mit Tanz und allen sonstigen Belustigungen stattgefunden und worin man heute noch einmal die Tafel mit den Ueberresten gestriger Herrlichkeit, mehr oder minder kunstvoll und neu ausstaffirt, hergerichtet hat. Die jetzige Ausstellung ähnelt deshalb einer sogenannten „second table“, einem Nachtisch für Verspätete und Unersättliche. Das sind wohl im Wesentlichen noch dieselben Räume, dieselben Geräthe und zum Theil auch dieselben Gerichte, aber das Beste davon ist schon verzehrt worden, das noch Vorhandene kalt oder aufgewärmt, und endlich hat an Stelle der gestrigen gehobenen Stimmung eine erschreckliche Nüchternheit Platz gegriffen. Wir befinden uns eben einem forcirten Unternehmen gegenüber, für welches trotz aller Anstrengungen das Grundelement – das Bedürfniß, fehlt.

Philadelphia hatte im Vorjahre für seine Weltausstellung und die dabei temporär zu übernehmende Weltstadtrolle seine Kräfte und Mittel auf's Aeußerste ausgedehnt und angespannt, und jetzt, nachdem der Traum vorüber, hängt ihm Alles schlaff herunter, wie einem Knaben, der seines Vaters Kleider angezogen hat. Seine Hôtels, Verkehrsmittel, Kaufläden, sein Geldbeutel; kurz, seine ganze Equipirung, die ihm vordem knapp und kleidsam angesessen, ist jetzt um Vieles zu weit geworden. Bis dies Alles sich wieder auf dem Wege natürlicher Entwickelung ausgleicht, wird Philadelphia einen langwierigen Heilproceß zu überstehen haben, und so mancher seiner Einwohner, der dafür nicht stark genug ist, wird inzwischen elendiglich an der Auszehrung sterben. Wer aber während der Dauer dieses allgemeinen Katzenjammers in Philadelphia Creditgeschäfte zu machen hat, der wird sich vorsehen müssen, nicht als saurer Häring mitverspeist zu werden. Unter diesen Umständen allein ist der nochmalige verzweifelte Versuch zu erklären, an den Knochen der im Vorjahre aufgezehrten fetten Kühe auch dieses Jahr noch ein wenig zu knabbern.

Im Hinblick auf seinen localen Charakter ist das Unternehmen in seiner jetzigen Ausdehnung noch viel zu großartig und vom Mittelpunkte der Stadt gar zu weit entfernt. Dem entsprechend finden wir auch die vielen Eingänge von früher bis auf den einen, der ehemaligen Maschinenhalle gegenüber, sozusagen hermetisch verschlossen, und auch hier schien man, obwohl es erst drei Uhr Nachmittags war, keinen Ankömmling mehr zu erwarten; denn es dauerte lange, bevor Jemand kam, um das Eintrittsgeld in Empfang zu nehmen. Auch wurde ich genöthigt, mein Reisetäschchen in der Garderobe gegen zehn Cents Gebühren zu deponiren, weil Niemand mit Gepäck oder Oberkleidern Zutritt erhält, eine Vorsicht übrigens, die zur Vermeidung des „Mitgehenheißens“ etwaiger nicht hoch genug hängender Gegenstände ganz gerechtfertigt ist.

Jetzt aber hatte ich noch ein Hinderniß zu überstehen und zwar im Abwehren der vielen Rollstuhlmänner, welche, mich fortwährend „old man“ titulirend, mich durchaus in der Ausstellung umherstoßen wollten. Diese Zumuthung berührte mich höchst unangenehm. Das Grau meiner Haare ist freilich keine Theorie; denn ich habe, unter uns gesagt, meine ersten Fünfzig hinter mir. Aber so knickstiefelig, um reif für den Rollstuhl zu sein, kann ich doch unmöglich aussehen. Was sollte sonst aus mir als Geschäftsmann werden, zu einer Zeit, da die Beine mehr werth sind als der Kopf? Wie sich ein Mann aber dem andern freiwillig als Lastthier anbieten kann, das war mir unbegreiflich, weil es hier mehr Neigung als Gewinnsucht zu sein schien; denn rentiren kann sich das Geschäft des mangelhaften Besuches wegen keinenfalls, und von Noth konnte bei solch wohlgenährten Leuten noch weniger die Rede sein.

Mein werther Freund Ludwig Buhl (Gott habe ihn selig, wenn er schon gestorben, und wenn er noch lebt, so sei er hiermit herzlich gegrüßt) sagte einstens: „Ich glaube nicht, daß die meisten Menschen mit Sätteln auf dem Rücken und Gebiß im Maule geboren werden, andere Wenige aber mit Stiefeln und Sporn, um auf ihnen zu reiten.“ – Ich aber glaub's, hab's immer geglaubt, und jetzt, nach fast fünfundzwanzigjährigem Aufenthalte in der demokratischen Republik, jetzt glaube ich's erst recht. Und diese Rollstuhl-Männer sind nur einige von den schwächeren Beweisen für die Vernunftgemäßheit dieser Anschauung; es giebt deren noch viel mehr und viel stärkere.

Der erste Blick auf die Ausstellung hat auch in diesem Jahre etwas Imposantes. Ja, das Menschengewühl von früher ließ uns zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, wogegen jetzt die einzelnen Gegenstände, sofern sie eben noch vorhanden sind, sich, ich möchte sagen, individueller hervorheben.

„Was sagen Sie zur Weltausstellung?“ fragte ich im vorigen Jahre einen daselbst zufällig angetroffenen Bekannten.

„Sie ist der größte Galanteriewaarenladen, den ich gesehen,“ erhielt ich zur Antwort, und wirklich, als solcher kann die diesjährige Ausstellung auch gelten. Da feiert nun, dachte ich bei mir schon damals, die Industrie eine Orgie, indem sie ihre ungezügelte Production zur Schau stellt, während wir gerade an dem daran verdorbenen Magen krank darniederliegen. Und trotzdem diese Menschenfülle, dieser scheinbare Wohlstand, diese Eleganz, dieser Geldumsatz von allen Seiten! Welch ungeheure Lüge, im Angesicht der längst nicht mehr hinwegzuleugnenden Noth und Geschäftsstockung! Und wie damals diese gleichsam mitausgestellte große Lüge vielleicht das merkwürdigste Object der ganzen Ausstellung war, so ist es heuer nicht minder die traurige Wahrheit in der traurigen Leere, einer Quittung gleich über inzwischen wirklich empfangene schlechte Zeiten.

Wer übrigens bei der heutigen Ausstellung den Maßstab der früheren nicht anlegt, findet immerhin genug Unterhaltendes und Belehrendes, das sich der Mühe des Besuches verlohnt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_490.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)