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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Es war die Ecke an dem capellenartigen Vorsprunge der Kirche, in welchem sich ein verfallener, selten benutzter Altar befand, unter welchem und um den herum die Schädel und Gebeine Derer aufgeschichtet waren, die man wieder ausgegraben hatte, weil sie im Laufe der Zeit ihre für so sicher gehaltene letzte Ruhestätte wieder einem Nachfolger hatten überlassen müssen. In dieser Ecke, an einem der vornehmsten Plätze, war der alte Himmelmooser begraben; ein schwarzes Holzkreuz auf dem Hügel trug ein schlechtes Abbild des Erzengels Drachentödter, dessen Namen er getragen, und auf einem fast unleserlich gewordenen Zettel standen die Worte geschrieben: „Bis zur Errichtung eines Denkmals.“ Auf den Hügel selbst, in den Schnee, war ein Kreuz von Hagebutten gelegt und um dieses herum eine Reihe kleiner Wachskerzchen gesteckt – die meisten schon erloschen oder dem Erlöschen nahe. Sie wären wohl schon längst in sich selbst verglommen oder vom Winde ausgeblasen worden, hätte nicht eine sorgliche Hand ihrer sich angenommen, die Hand eines schwarzgekleideten Mädchens, das, an dem Hügel knieend, sie immer zu erhalten wußte, einen Rosenkranz in der Hand, dessen Korallen sie hin und wieder fallen ließ, indem sie halblaut murmelte und bat, daß Gott dem Todten die ewige Ruhe geben und das ewige Licht ihm leuchten lassen solle in Ewigkeit.

Das Mädchen hielt plötzlich im Gebete inne; denn in ihrer nächsten Nähe war ein schwerer, klagender Seufzer laut geworden und machte sie aufhorchen. Der Ton war zu bestimmt und deutlich, als daß eine Täuschung möglich gewesen wäre; sie erhob sich daher und näherte sich dem Thorbogen des Beinhauses, als es sich darin abermals zu regen begann und in dem Dämmerdunkel ihr ein Mann entgegentrat.

Es war Wildl, der in dem Beinhause vor dem Altare auf dem Fußschemel der Betbank gesessen war, weil er dort am besten vor den neugierigen Blicken der Kirchhofbesucher gesichert war und weil das Herz ihn getrieben hatte, den Mann im Grabe zu besuchen, mit dem er im Leben noch soviel zu besprechen gehabt, das er nicht mehr besprechen konnte.

„Nichts für ungut!“ sagte er im Heraustreten. „Ich habe nicht gewußt, daß ich da Dich finden werde; sonst hätt’ ich Dir’s schon erspart, mir noch einmal zu begegnen.“

„Brauchst Dich nicht zu entschuldigen,“ entgegnete Engerl beklommen. „Es freut mich, daß ich Dich an dem Orte finde, und weil wir doch einmal so zusammentreffen, wird es schon seine Ursach’ haben und wird so sein müssen.“

„Du kannst wohl Recht haben,“ entgegnete Wildl. „Aber seit ich aus Deinem Briefe weiß, wie Du gesinnt bist, will ich Dir nicht zur Last fallen. Ich will gleich gehen und Dich in Deiner Andacht nicht stören.“

Engerl schwieg einige Augenblicke, als müßte sie sich über das, was sie sagen wollte, erst noch besinnen.

„Ich hab’ Dir geschrieben,“ sagte sie, „wie mir’s um’s Herz ist. Ich geh’ in die andere Welt, nach Amerika. Aber es hat mich doch nochmal heimgetrieben zuvor, und weil ich gehört hab’, daß Du wieder da bist, so hab’ ich gemeint, ich müßte Dir doch ‚B’hüt’ Gott!‘ sagen, und damit Niemand was davon erfährt, bin ich mein eigener Bot’ gewesen.“

„Ich dank’ Dir schön, Engerl. Ich dank’ Dir, daß Du mich doch nicht ganz verstoßen und vergessen hast,“ begann Wildl wieder. „Und so hab’ ich auf dieser Welt nur noch Eines auf dem Herzen – Du hast mir einmal ein Ringl zum Aufheben ’geben; wenn Du fortgehst, wirst Du wohl nicht wieder kommen; ich werd’ Dich also nicht wiedersehen, und so wird’s das Beste sein – ich geb’ Dir das Ringl gleich zurück.“

„Ja,“ entgegnete Engerl mit wankender Stimme, „es wird das Beste sein.“

„Hab’nur eine kleine Weil’ Geduld!“ antwortete Wildl, und auch seine Stimme klang gepreßt und war kaum hörbar, während er sich bemühte, den kleinen Silberreif vom Finger zu ziehen. „Es geht nicht so leicht – wenn ich auch magerer geworden bin im Gefängniß; das Ringl ist mir in’s Fleisch gewachsen und läßt sich nicht so leicht herunterziehen. Es wird aber schon gehen, und wenn auch ein Stückchen Fleisch mitginge, was schadet’s! Wenn nur nicht das ganze Herz dranhinge und mit zerreißen thät’!“

Engerl vermochte der plötzlich in ihr aufsteigenden Sehnsucht und Wehmuth nicht zu widerstehen. Ohne zu wissen, wie es eigentlich kam, warf sie sich, unfähig zu reden, an die Brust des Burschen, legte den Kopf auf seine Schultern und ließ den Thränen freien Lauf, welche das beschwerte Herz erleichterten.

„O Wildl, Wildl!“ schluchzte sie, „wie schön hätt’ Alles werden können! Wie gut hat es Dein Vater im Sinne gehabt, und jetzt – o Wildl, Wildl, warum hast Du –“ Thränen verhinderten sie, weiter zu sprechen, aber auch wenn sie vermocht hätte, wäre sie nicht dazu gekommen; denn rasch und entschieden hatte Wildl sie von sich gedrängt und stand, hochaufgerichtet, mit blitzenden Augen ihr gegenüber.

„Wie ist das?“ rief er. „Du hältst mich also auch für schuldig? Du glaubst wirklich – Du hältst mich wirklich im Stande, so was zu thun, und kannst mir das sagen? Du thust das, Du, die mich kennt wie kein Mensch auf der Welt? Du, die in mein Herz hinein sieht, als wenn ein Glasfenster davor wär’?“

Engerl stand vor ihm; sie hob die Arme und breitete sie zitternd gegen ihn aus. „Ja, wär’s denn möglich? Könntest Du doch unschuldig sein?“ fragte sie mit bebender Stimme. „O, Du glaubst nit, wie schwer es mir geworden ist, so was von Dir zu glauben. Wär’s möglich, daß meine Lieb’ doch Recht hätt’? Denn alleweil ist etwas in mir gewesen, das g’sagt hat: Der Wildl, der gute Bub’, wenn er auch rasch und hitzig ist, so was kann er doch nicht gethan haben… Bist wirklich unschuldig an dem Vatern sein’ Tod?“

Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern faßte Wildl’s Hand und führte ihn zum Grabhügel, an dessen einer Seite sie niederkniete.

„Kniee Dich nieder auf der andern Seite!“ sagte sie feierlich. „Leg’ Deine Hand auf’s Grab und sag’ – wenn Du es an dem Grab und in der Stunde sagen kannst – leg’ Deine Hand auf’s Grab und sag’: Vater, ich bin unschuldig an Deinem Tod!“

Ohne Widerstreben that Wildl, wie sie forderte.

„Vater,“ sagte er, „hör’s hinunter in Dein Grab! Ich bin unschuldig an Deinem Tod.“ Sein Ton war ernst und feierlich, und wie zur Bestätigung erhob sich ein Luftstoß und der Kranz am Kreuze rauschte, daß es sich melodisch anhörte, wie ein Ruf der Versöhnung.

„O dann, dann ist ja Alles gut,“ rief das Mädchen in gerührter Freude. „Dann red’ ich nichts mehr von ‚B’hüt Gott!‘ sagen; nachher g’hör’ ich Dein mit Leib und Seel’, wie ich Dir’s versprochen hab’.“ Ueber dem schmalen Hügel hinweg reichten sie sich die Hände, und Wildl drückte den kleinen Ring an die Lippen.

„Ja,“ rief er, „jetzt bleibt das Ringl da in Ewigkeit, in alle Ewigkeit.“

„O, wenn uns der Vater jetzt sehen könnte!“ begann Engerl nach einer Weile. „Du denkst gar nicht, wie eigen Alles zugegangen ist und wie gut der Vater es mit uns im Sinne gehabt hat. Wenn ich Dir nur Alles erzählen dürfte! Aber er hat mein Wort mit hinunter genommen in’s Grab, und das halt’ ich ihm, so gut ich Dir Wort halten will.“

Die Kirchhofsthür rauschte, und der Meßner kam über den Friedhof geschritten, um in der Kirche das Ave Maria zu läuten. Um nicht gesehen zu werden, schlüpften die Beiden in’s Beinhaus und saßen in unerwartetem Liebesglück auf der Betbank, wo Wildl erst in so tiefem Leid gesessen. Das Dunkel verhüllte ihren Augen die kahlen hohläugigen Schädel, in denen einst auch ein Gehirn gedacht, die hohlen Knochen, in denen einst ein Mark gezuckt, und vom Thurme scholl das Geläute des Abends, Ruhe verkündend, jene Ruhe, deren die Geschiedenen schon für immer theilhaftig waren und die auch die Herzen der Liebenden wie eine Ahnung umschwebte.

Die lichtlose Stille hinderte sie nicht, das Buch der Erinnerung zu durchblättern. Wildl erzählte seine Erlebnisse im Gefängnisse, Engerl ihren schweren Gang in’s Himmelmoos und ihr Gespräch mit dem Vater; sie erzählte nicht unwahr, aber mit jener Zurückhaltung, die sowohl ihr eigenes Zartgefühl wie das Gelöbniß erheischte, das sie dem Todten gegeben. Die Thatsache der Versöhnung, das Verschwinden des Hasses genügte – was die Ursache dieses Hasses gewesen, das war für Wildl gleichgültig und sollte für ihn ein Geheimniß bleiben, das Engerl nur mit dem Seligen theilte.

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