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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


französische Volk ohne Grund, ohne Ursache über Nacht aus der stillen Arbeit des Friedens in alle Schrecken des Krieges gestürzt hatten.

Ich war durch die Steinvorstadt gewandert, in der kein Stein mehr auf dem andern lag; ich war nach Schiltigheim gefahren mit seinem verwüsteten Friedhof; ich hatte die Lünetten zweiundfünfzig und dreiundfünfzig aufgesucht, wo die wackere preußische Artillerie Bresche geschossen; ich hatte mich von einem strammen Landwehrmanne aus Ostpreußen durch die Citadelle führen lassen, die von den badischen Granaten zu einem einzigen Trümmerhaufen umgewandelt worden war und in der ganze Mauerwände am Boden lagen, als hätte sie der Wind umgeblasen; ich hatte mich vollauf beladen mit Granatsplittern und Shrapnells, die ich als Andenken mit nach Hause nehmen wollte, und wanderte nun in schon vorgerückter Tageszeit nach dem Münster, dessen herrlicher Thurm auch heute in ungebrochener Hoheit und Majestät in den Abendhimmel ragte.

Die Beschädigungen, die der Dom bei der Belagerung erlitten, waren für den, der ihn früher nicht gesehen, kaum zu erkennen. Stolz, feierlich, unerschüttert, voll erhabener Ruhe stand er wie ein von Wogen umbrandeter Fels mitten in dem kriegerischen Gewühle des Tages. Ein halbes Jahrtausend mit all' seinen Stürmen und Wettern hatte er schon vorüberschreiten sehen; Geschlechter um Geschlechter waren an ihm vorbeigewandelt und in die Alles verschlingenden Gräber gesunken, aber auf die zermalmenden Kämpfe und Kriege waren immer wieder die Segnungen des Friedens gefolgt; aus den niedergestampften, blutgetränkten Schlachtfeldern war immer wieder die goldene Saat erstanden; Häuser und Hütten, welche die Fackel des Krieges eingeäschert, waren immer wieder schöner und reicher in die Höhe gestiegen; der wilden, bluttrunkenen, aus den Höllentiefen der Menschenbrust losgelassenen Leidenschaft war immer wieder jener stille, freundliche Sinn der Versöhnung und Freundschaft gefolgt, unter dessen Schutz die Werke der Kunst gedeihen und die Menschheit sich wieder ihrer heiligen Ideale erinnert – und auch heute stand der gigantische Bau, zu dem einst der heilige, kühne Glaube freier Männer begeisterungsvoll Quader um Quader bis in schwindelnde Höhe aufgethürmt, wie seit den Riesenpyramiden der ägyptischen Könige nicht mehr geschehen war, stolz, fest, ernst, unentwegt, ein großartiges Symbol der Liebe, der Freiheit, der Begeisterung, die ihn erbaut und die nun mit ihm schon ein halbes Jahrtausend auch siegreich überdauert hatten.

Wie deß zum Zeichen, ward jetzt oben die Glocke laut, und ihr eherner Hall zog in mächtigen Schwingungen über die Märkte und Straßen der Stadt, die im Dämmer des Abends lagen. Der Klang der Glocke aus der Höhe des Münsters hatte für mich in diesem Augenblick und unter diesen Umständen etwas tief Ergreifendes, Erschütterndes; es lag Etwas darin, was die Seele für das ganze Leben fest hält und was sie nicht mehr los läßt, so lange überhaupt eine Erinnerung ihr innewohnt.

Den nächsten Morgen machte ich eine ziellose Wanderung durch die Stadt. Auf den Kleberplatz mit seinem zerschossenen Gemäldemuseum kam ich gerade, als die deutsche Wachtparade aufmarschirte. Landwehrmänner aus Ostpreußen, kräftige Gestalten mit blonden Bärten, nicht mehr jung, aber ernst und voll Würde – ein prächtiger, herzerfreuender Anblick. In weitem Bogen um den Platz herum standen dichtgedrängt die Straßburger und das Landvolk, das in die Stadt geströmt war; namentlich das Frauengeschlecht war zahlreich vertreten, elegante, zierliche Französinnen in der koketten Nationaltrauer und mit noch koketteren schwarzen Augen, daneben stattliche, blonde Elsässer Mädchen von hohem, ansehnlichem Wuchse, mit schönen Gesichtszügen und auf dem Kopfe die Haube mit den gewaltigen Flügelbändern. Sie Alle streckten neugierig ihre Köpfe in den Kreis und konnten sich nicht satt sehen an dem fremdartigen militärischen Treiben. Wie aber dann die Trompeten schmetterten und die Trommeln wirbelten und wie plötzlich – Eins, zwei – Eins, zwei – die Soldaten im Tempo ihre Beine wagerecht warfen, als würden sie zusammen an einem einzigen Schnürchen gezogen, und wie sie – der Officier voran – alle krampfhaft ihre Köpfe ausrenkten, hinüber nach dem Höchstcommandirenden zu sehen, der die Parade abnahm, da lachte das Weibervolk ringsum, daß ihnen die Thränen in den Augen standen. So etwas Possierliches war ihnen noch niemals vorgekommen, wie dieser Aufmarsch der deutschen Soldaten. Die Männer in der Blouse und die paar windigen, lumpigen Turcos und Liniensoldaten, die sich, zerfetzt und verkommen, den unvermeidlichen Pfeifenstummel im Munde, gleichfalls noch hier herumtrieben, zuckten mit albernem Spotte die Achseln und machten vermuthlich eine Faust – aber nur in der Hosentasche, aus der sie ja den ganzen Tag die Hände nicht herausbringen.

Als ich in den „Gasthof zum Rebstöckel“, wo ich Absteigequartier genommen hatte, zurückkehrte, fand ich mich zu meiner Ueberraschung delogirt. Mein Koffer stand bereits in der Portierloge, und der Portier selbst erklärte mir, daß im Laufe des Vormittags eine Dame vorgefahren sei, die schon in der ganzen Stadt vergeblich nach einem Unterkommen gesucht und sich nicht mehr habe abweisen lassen. Da ich nun schon in der Frühe beim Verlassen des Hôtels die Absicht ausgesprochen, gegen Abend wieder abzureisen, so habe man endlich mein Zimmer für die geängstigte und halb verzweifelte Dame frei gemacht und diese selbst habe sich ausdrücklich vorbehalten, mich noch persönlich für diese Eigenmächtigkeit um Entschuldigung zu bitten.

Ich machte mir nichts weiter aus der Sache und beauftragte nur den Portier, mir ein Billet für den Omnibus zu besorgen, der in zwei Stunden nach Kehl fahren sollte. Dann trat ich in den Speisesaal und rückte mir einen Stuhl an das Fenster, die neuesten Zeitungen zu durchblättern. Die Nachrichten aus Metz hielten damals die ganze Welt in Spannung. Bald darauf hörte ich das Rauschen eines Kleides hinter mir; ich wandte mich nach der Thür, und vor mir stand – die schöne Magda von Suderode.

Meine Ueberraschung war nicht gering. Aber nicht minder überrascht war das Mädchen selbst, das überdies eben im Begriffe schien auf mich zuzugehen. Sie erkannte mich sofort und streckte mir ihre Hand entgegen.

„Welches Wiedersehen!“ sagte sie freundlich.

„In Straßburg! In Feindesland! Mitten im Kriege!“ entgegnete ich lächelnd.

„O, in deutschem Reichsland!“ versetzte sie lebhaft. „Wir halten es fest.“

„Das will ich hoffen,“ rief ich aus. „Aber,“ setzte ich dann hinzu, „was führt Sie, mein Fräulein, hierher?“

„Hierher? Zu Ihnen? Der Wunsch, Sie auf das Herzlichste um Entschuldigung und Nachsicht zu bitten, daß ich Ihre Wohnung hier während Ihrer Abwesenheit in Beschlag genommen habe. Man sagte mir indeß –“

„Sie dürfen überzeugt sein,“ versicherte ich, „daß ich diesen kleinen Dienst mit Freuden jeder Dame geleistet hätte; – am liebsten freilich Ihnen, denn ich erinnere mich noch immer gern jenes schönen Nachmittags in Suderode.“

„Ach, ja,“ rief das Mädchen, „wie herrlich und friedlich war es dort – die reine Idylle –“

„Mit Stachelschweinen,“ scherzte ich.

Das Mädchen lachte. „Sie scheinen ein genauer Beobachter gewesen zu sein. Wie viel Gram und Herzeleid aber ist inzwischen über uns Alle gekommen, wie viel Sorge und Kummer!“

„Auch über Sie?“

„Auch über mich. Aber glauben Sie nicht, daß ich deshalb klage! Nein, nein. In so großer und ernster Zeit muß Jeder seinen persönlichen Antheil an der Noth haben, die über dem Ganzen liegt. Er muß persönlich für etwas zu zittern haben, damit er weiß, was Ungeheures es sei, wenn Hundert- und aber Hunderttausende mit ihm zugleich derselben Bedrängniß, derselben Todesangst ausgesetzt sind. Und täglich zu weinen und doch immer zu hoffen, und täglich zu verzweifeln und doch nie den Muth zu verlieren, sehen Sie, das ist, wenn die Männer draußen im Kampfe stehen, die That der Frauen, das ist unser Heroismus. O, ich fände es viel schrecklicher, wenn ich mitten in der Sorge, welche in den Herzen Aller bebt, allein stehen müßte, ohne weiteren Antheil, als den eben auch der Niedrigste und Gemeinste am Schicksal seines Vaterlandes nehmen muß. Nein, mitleiden müssen wir und mitdulden; Jeder muß seinen Zoll von Schmerz und Thränen zahlen – dann allein haben wir auch das Recht, uns mitzufreuen, wenn endlich aus Nacht und Noth die Glorie des Sieges und Triumphes leuchtend emporsteigt.“

„Brav gesprochen, mein tapferes Fräulein! Aber erlauben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_475.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)