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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 28.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Im Himmelmoos.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Wildl wußte nicht, wie ihm geschah, als er das Entsetzen sah, das er den Kindern einflößte. In der ersten Aufwallung wollte er den Buben nach, um sie zu züchtigen, aber er fand die Kraft nicht dazu; denn im Augenblick loderte es vor seinen Augen wie die Flammen eines plötzlich ausgebrochenen Brandes empor, der ihn selbst, sowie seine Aussichten und Hoffnungen beleuchtete – der Stern der Hoffnung, der ihm bis zu dieser Stelle geleuchtet, war also nichts gewesen als ein Stern in einem Feuerwerk, das für einen Augenblick die ganze Gegend mit einem Lichtmeer übergießt, um sie dann in desto tiefere Finsterniß zu versenken. Die Verstimmung währte indeß nicht lange; er überredete sich bald selbst, daß es nur Kinder gewesen, welche die Verhältnisse nicht zu beurtheilen vermöchten und bald anders denken würden, wenn die Eltern und anderen Dorfbewohner durch ihr Betragen bewiesen, daß die entsetzliche Beschuldigung, die sie ausgesprochen, nichts mehr sei als leeres Gerede. Er sah von Weitem, wie die Kinder im großen Bogen sich wieder der Straße näherten, und schritt dem Dorfe zu, dessen erstes Haus, ein Wirthshaus, ihn gastlich und um so mehr anzog, als es ihm von den Jahren seines Dorfaufenthalts wohl vertraut war. Wie ein vom Platzregen überraschter Vogel die Wassertropfen, suchte er den Eindruck der Kinderbegegnung abzuschütteln, drückte den Hut fester in die Stirn und murrte vor sich hin. „Dumme Buben! Was verstehen die davon? Der Hund des Gerichtsdieners ist gescheidter als sie; er hat mir die Hand geleckt.“

Er vollendete nicht; denn das Gasthaus war erreicht, aus welchem ihm die Laute eifrigen Gesprächs, zeitweise mit lautem Lachen untermischt, wie grüßend entgegentönten. Es war allerdings nicht um die Zeit, zu welcher die Dorfbewohner sich daselbst einzufinden pflegen, aber die Bauern hatten heute eine Berathung wegen eines Weges zu pflegen, den das Landgericht gebaut haben und gegen welchen man sich sträuben wollte. Deshalb war die Stunde nach dem Mittagsessen zur Zusammenkunft gewählt worden, und an ein paar zusammengeschobenen Tischen saßen die Berather hinter ihren Krügen bedächtig beisammen, während in einem Vorderstübchen ein paar jüngere Bursche sich aufhielten, deren Aussehen verrieth, daß sie zu jener Art von Stamm- und Wandergästen gehörten, die selten in einem Wirthshause fehlen und die man gewöhnlich Tagediebe nennt, wenn sie noch nicht völlig zu Lumpen und Verbrechern geworden sind. Sie hatten eine Cither vor sich auf dem Tisch, auf der sie herumklimperten, unbekümmert um die wichtigen Gespräche der Bauern, die sich hinwieder auch nicht daran stießen, wenn hie und da Cither und Gesang etwas laut wurden, und besonders die Kellnerin, eine derbe, lebfrische Dirne mit rothen Backen und Lippen und ein paar überlustigen Haselnußaugen, mit unverhaltener Stimme Schnaderhüpfeln sang.

Einer der Bursche war Fazi, der Maurer. Er trug eine hellblaue Soldatenjacke, von welcher der Kragen als militärisches Abzeichen losgetrennt war; er mochte dem Krug bereits wacker zugesprochen haben, denn er war ausgelassen lustig und schon der Grenze nahe, wo die Erregung des Trunkes in Abstumpfung und Betäubung überzugehen anfängt.

Wildl war eingetreten und hatte mit leichtem Gruße an einem leeren Tische in der Nähe des Ofens Platz genommen. Mit seinem Eintreten war es, als ob das rauschende Wasser an einem Mühlwehr gestellt worden wäre; das Gesumm der Stimmen verstummte wie auf Befehl oder Verabredung, und augenblicklich wurde es in der Stube so still, daß man den Perpendikel der großen Standuhr hörte, der gleich und unabänderlich fortging, wie der hörbar gewordene Pulsschlag der Zeit.

Wildl war es zu Muthe, als ob ihm das Herz stille stehen wollte; er vermochte kaum der Kellnerin Antwort zu geben, die kurz nach seinem Begehren fragte, und ward es nicht gewahr, daß sie, Krug und Brod abgewendet und flüchtig vor ihn hinstellend, es nicht einmal der Mühe werth fand, das jedem Gaste gebührende und landesübliche „Gesegn’ es Gott!“ auszusprechen. Vom Tische der Bauern tönte ebenfalls kein grüßendes Wort, aber der Blick der Meisten ruhte verwundert auf ihm, während Andere in ihre Krüge hineinsahen, wie um einen unangenehmen Anblick oder einer Nöthigung zum Gruße auszuweichen. Wie sollte Wildl diesen allgemeinen Zeichen der Geringschätzung entgegentreten? So sehr auch das Blut in ihm aufwogte, er fand keinen Ausweg, kein Wort der Erwiderung. Er hatte gehofft, daß die Thatsache seiner Freilassung genügen würde, ihn in der allgemeinen Meinung herzustellen; jetzt ward ihm plötzlich die ganze furchtbare Bedeutung des über ihn ergangenen Richterspruches deutlich, er erkannte, daß er den Verdacht an seinem Fuße gleich einer unsichtbaren Kette nachschleppte, an welcher man ihn jeden Augenblick zurückzuziehen vermochte. Er konnte den argwöhnischen Augen nicht offen entgegentreten, denn er las darin: „Was willst Du von uns? Du bist verdächtig und kannst nicht verlangen, daß wir besser von Dir denken als das Gericht.“

Um das Maß seiner Erregung voll zu machen, war Fazi sofort

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_467.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)