Seite:Die Gartenlaube (1877) 456.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


geradezu berauschend und hinreißend wirkt. „Ihr ‚Mackintosh‘ wird nicht mitlaufen,“ wiederholte das Mädchen nachdrucksvoll. „Und ich will es Ihnen jetzt sagen, warum. Die Sorge für Sie, lieber Freund, beunruhigt mich noch am wenigsten. Ja,“ lachte sie, „sehen Sie mich nur so verwundert an – aber ich kann es selbst nicht glauben, daß Ihnen ein Unfall zustoßen könnte. Niemand reitet so kühn, so verwegen, so sicher, wie Sie, und ich meine, mit Ihrer Kraft und Ihrer geschickten Hand müßten Sie für jeden Schritt und Sprung Ihres Thieres einstehen können.“

Der Andere lächelte vergnügt ob des gewordenen Lobes.

„Aber,“ fuhr sie erregter und mit heftigeren Worten fort, „Sie sollen sich nicht an dieser heillosen Thierquälerei betheiligen; Sie sollen Ihre armen Pferde nicht so mörderisch quälen; Sie sollten die edlen Geschöpfe mehr lieben und besser behandeln. Wem zu Liebe hetzen Sie denn Ihren ‚Mackintosh‘ durch die Bahn, daß das arme Thier im besten Falle halb zu Tode gejagt und in seinem Schweiß gebadet am Ziele anlangt? Dem Berliner bankerotten Kaufmann zu Liebe? Und was entschädigt Sie denn – ich meine moralisch –, wenn Ihr ‚Mackintosh‘, an dem, wie Sie sagen, Ihr ganzes Herz hängt, Ihrem Ehrgeiz zum Opfer fällt und zu Grunde geht? Vielleicht das Beifallsgebrülle der Bauern, die rings im Kreise stehen und Ihnen die Ehre anthun, auf Ihr schönes Pferd und auf Ihr geschicktes Reiten zu wetten? Ich denke – Sie haben Ihre Kühnheit und Ihren Muth im Jahre 1866 schon bei würdigeren Gelegenheiten gezeigt, die Ihnen besser und männlicher und adeliger standen, im Pulverrauch und im Feindesgewühl – bitte, verzichten Sie und – folgen Sie mir, wie Sie immer gethan!“

Ihr Begleiter war aufgesprungen und suchte sich offenbar dem drängenden Zureden des Mädchens zu entziehen. – Aber sie hatte ihn gar wohl in ihrer kleinen, niedlichen Hand.

„Und wann ist das Rennen?“ fragte sie, ihn jetzt schelmisch von der Seite ansehend und ihr Köpfchen halb erhebend, daß auch die Coquettirlocken schalkhaft nickten und grüßten.

„Nächsten Sonnabend.“

„Also schon in fünf Tagen? Das ist etwas bald. Aber, es sei! Wollen Sie mich Sonnabend Nachmittag wieder hier erwarten?“

„Magda!“ flehte ihr Begleiter noch einmal.

„Bitte,“ sagte das Mädchen, indem sie, sich jetzt gleichfalls vom Stuhle erhebend, die Falten ihres Kleides flüchtig glättend hinunterstrich und den braunledernen Handschuh über die Hand zog, „bitte, lassen Sie den Wagen vorfahren! Es ist schon recht spät geworden und ich versprach, bis zum Nachtbeginn wieder in Alexisbad zu sein. Bis der Kutscher angespannt hat, können wir noch ein Stückchen den Wald entlang gehen. Dann aber müssen wir uns trennen, und nächsten Sonnabend also werden wir uns hier wiedersehen. Nicht wahr, mein lieber Freund?“

Ohne noch bestimmt zu antworten, reichte der Gefragte der Dame galant den Arm und führte sie durch den Speisesaal in’s Freie. Sie waren ein schönes und stattliches Paar, das im Vorüberschreiten die Augen Aller auf sich zog, und ich war zugleich überzeugt, daß das Quedlinburger Derby-Rennen nächsten Sonnabend ohne Mackintosh vor sich gehen und daß die schöne Magda um dieselbe Zeit ganz gewiß nicht vergeblich hier in Suderode auf ihren Cavalier warten werde. – –

Mehrere Wochen nachher reiste ich von Thale ab. Ich war zuerst unschlüssig gewesen, wohin ich meine Schritte wenden solle. Die Morgenzeitungen, welche mir der Kellner neben mein Frühstück gelegt hatte, hatten meinen Zweifeln ein rasches Ende gemacht. Es war Anfang Juli 1870, und die berüchtigte Rede des Herzogs von Grammont im gesetzgebenden Körper zu Paris hatte Europa mit einem Male aus dem tiefen Friedensschlummer aufgeschreckt, dem alle Welt sich überlassen hatte. Die schwarzen Wolken des Krieges stiegen von allen Seiten wetterleuchtend auf. Noch war der Ausbruch des Unwetters, das mit rasender Geschwindigkeit heranzog, ungewiß; vielleicht gelang es noch, die drohende Gefahr zu beschwören, aber ein weiterer Aufenthalt in der Einsamkeit des Landes hatte doch wenig Verlockendes mehr; sein Reiz war dahin, und der Wunsch, sich stündlich über die aufregenden Begebenheiten des Tages unterrichten und die nahenden großen Ereignisse in Gemeinsamkeit mit Anderen verleben zu können, trieb Jeden mit beschleunigter Eile in die Stadt zurück.

Zwar diese panische Rückflucht aus den idyllischen Wohnstätten der Gebirge und Bäder sollte im Großen erst einige Tage später beginnen, aber doch war der Morgenzug, der mich in der Richtung nach Halle befördern sollte, schon mehr als gewöhnlich von heimkehrenden Passagieren gefüllt. Ich war froh, eine gute Ecke im Coupé mir erobert zu haben, und horchte auf die erhitzten und leidenschaftlichen Reden meiner Reisegefährten, die sich natürlich alle auf die Möglichkeit des Krieges und auf seine Eventualitäten bezogen.

In diesem Augenblicke traf vom Perron her eine wohlbekannte Stimme mein Ohr.

„Schaffnär – aufschließen – erster Classe – drei Plätze!“

Ich beugte mich rasch zum Fenster hinaus und erblickte den Begleiter der schönen Magda in Suderode, aber als Officier in der Interimsuniform, die seine schlanke, breitschulterige Gestalt prächtig hob, den Degen an der Seite, den Schnurrbart wie immer keck zugedreht und die blonden Haare über dem Ohr stramm gegen die gebräunte Wange hereingekämmt. Bei ihm befanden sich zwei ältere Damen und die schöne Magda. Die Abfahrt drängte, und die Zeit zum Abschiednehmen war spärlich zugemessen. Mein Officier war den beiden älteren Damen beim Einsteigen behülflich; er behandelte sie mit verehrungsvoller Höflichkeit und küßte ihnen die Hand. Als die schöne Magda einstieg, führte er nur höflich seine Rechte an die Mütze, sich kaum merklich verbeugend. Das Mädchen dankte ihm mit Kopfnicken, ohne ihn dabei anzusehen.

„Haben famoses Wetter heute – denke, wird noch heiß werden – adieu – glückliche Reise, meine Damen!

Der Zug brauste zum Bahnhof hinaus, und ich sah noch, wie der Officier einem zierlichen Gefährte zuschritt, das am Eingange der Station stand; zwei elegant gewachsene Pferde von hellgelber Farbe waren vor den Wagen gespannt, und auf dem hohen Bock saß ein backenbärtiger Livréekutscher, die zusammengedrehte Peitsche voll Selbstbewußtsein auf das rechte Bein gestützt.

Und jetzt, ja, jetzt wußte ich auch, bei welcher Gelegenheit ich den Officier schon einmal gesehen hatte. Die Erinnerung daran schoß mir wie ein Blitz durch den Kopf. Es war das ein Jahr vorher in Wittenberg geschehen, wo eine deutsche Industrie-Ausstellung stattfand, und ich hatte mich einem Extrazuge dorthin angeschlossen, der zum Behufe dieser Ausstellung von Dresden aus veranstaltet worden war. Die Ausstellung selbst interessirte mich blutwenig, aber ich benutzte die Gelegenheit gern, mir die Wiege der Reformation anzusehen und die ehrwürdige Stadt kennen zu lernen, in welcher der schlichte, bescheidene Augustinermönch zum Manne der Weltgeschichte, der einsame Theosoph zum gewaltigen Reformator der Christenheit erwachsen war.

Müde vom Herumwandern, kehrte ich damals Abends auf den Bahnhof zurück, der schon von vielen Hundert Menschen erfüllt war, die nun auf dem Perron, Bier trinkend oder Kuchen essend, an kleinen Tischen saßen und, wie ich, den Abgang des Extrazuges erwarteten.

Da drängten sich mitten durch die Menge Arm in Arm zwei junge Söhne des Mars. Sie trugen den Degen an der Seite, die bekannte Interimsuniform mit den langen Rockschößen und dem weiten Aermelaufschlage, das Beinkleid, das um das Knie noch ziemlich eng anschloß, nach unten so charakteristisch ausgeschweift, daß es kaum mehr den halben Fuß sichtbar werden ließ, und auf den keck zurückgeworfenen Köpfen saßen die rothgeränderten Schirmmützen mit so breiten Deckeln, daß ich mir den Schild des Achilles kaum von größerem Durchmesser denken kann. Ein Kneifer, den sie fest in’s linke Auge geklemmt hatten und dessen Schnur über die Schulter weg graziös im Winde flatterte, vollendete die militärische Ausrüstung der beiden Helden.

Es war leicht zu bemerken, daß sich bei ihrer Annäherung sofort des gesammten Publicums, das bisher so „scheene“ beisammen gesessen und sich seines Lebens und seines Apfelkuchens gefreut hatte, eine auffallende Unruhe bemächtigte. Aller Blicke wandten sich nach ihnen, und man deutete, man flüsterte. Ueber den Philister war plötzlich ein Unbehagen gekommen, weil er ganz offenbar in den Neuangekommenen ein Element erblickte, das ihm wenig vertrauenerweckend erschien, und weil er sich von ihnen ganz gewiß keine Förderung der allgemeinen Fröhlichkeit versprach. Denn, um es gleich zu sagen: der eine dieser beiden Kriegshelden war allerdings nüchtern, der andere aber war es nicht oder doch

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_456.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)