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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Gewandt zwängte er sich durch die Oeffnung und schwang sich mit einem kühnen Sprung hinab, nicht beachtend, daß die Höhe desselben sonst wohl geeignet gewesen wäre, Besorgniß zu erregen. Angehaltenen Athems und gebückt lauschte er dann, ob sich nichts rege, und floh lautlos wie ein Schatten am Hause dahin, um die Straße zu gewinnen.

Bald sah er durch die Obstbäume der Gärten die dunkeln Umrisse des Bauernhauses, in welchem Engel in Dienst stand; er vermochte das Fenster ihrer Schlafkammer zu unterscheiden, aber je näher er kam, je mehr ward er in seiner Hoffnung enttäuscht; denn das Fenster war und blieb dunkel; Engel lag also schon zu Bett oder sie war überhaupt gar nicht nach Hause gekommen. Es kam ihm in den Sinn, sich davon zu überzeugen und das vor dem Hause aufgeschichtete Brennholz zu erklettern, von welchem aus er dann leicht soweit das Fenster erreichen konnte, um anzuklopfen. Was war dabei zu befürchten? War Engel zu Hause, so mußte sie es hören und Antwort geben; nach Sitte und Brauch der Gegend war es auch nichts Seltenes, daß der Bursche zu seinem Schatz an’s Kammerfenster kam, und jetzt war auch kein Geheimniß mehr nöthig – jetzt durfte und sollte alle Welt wissen, daß er das Mädchen liebe und von ihr wieder geliebt werde.

Der Vorsatz war so schnell ausgeführt wie gefaßt; Wildel stand bald hoch genug vor dem Fenster, um die Kammer überblicken und bemerken zu können, daß dieselbe leer und das Bett unberührt war. Engel war also nicht nach Hause gekommen; sie hatte ohne Zweifel noch bei guter Zeit den Weg nach der Brünnl’-Alm eingeschlagen, wohin ihr Dienst sie rief und von wo erst in den nächsten Tagen abgetrieben werden sollte. Sofort schritt er die Hecken und Feldzäune entlang, den Bergen zu, in weitem Bogen das heimathliche Himmelmoos umkreisend, und hatte in hastiger Eile bald die Hütte erreicht, die ihm schon einmal zur Herberge geworden.

Von dort war es beim ersten Tagesgrauen ein Spiel, die Brünnl’-Alm zu erreichen, Engeln zu sehen und mit ihr zu besprechen, was nicht unbesprochen bleiben konnte.

Lange hielt die Aufregung des Gemüthes den Ruhenden wach, so einschläfernd auch der Regen auf das Dach plätscherte; auch als endlich die Ermüdung und der betäubende Duft des Heues ihre Wirkung nicht verfehlten, ruhte die Seele nicht; aus den durcheinander stürmenden Gedanken wurden Träume, die nicht minder in wechselnden Gestalten und bunten Farben verflossen. Bald sah er Engel vor sich herschweben und versuchte, mit dem bängsten Gefühle des Unvermögens, sie zu erreichen; dann sah er sie wieder einer Spitze nahe, von welcher sie mit dem nächsten Schritte unfehlbar abstürzen mußte; er selber aber lag in dem Bergrutsche, in welchen er erst die Nacht zuvor hinuntergefallen war, und nur die Aeste hielten ihn vor einem noch tieferen und gefährlicheren Falle in den Abgrund, der unter ihm gähnte. Dann war es wieder, als ob eine Stimme ihm heimlich zuflüsterte, daß er dem Alten gegenüber im vollen Rechte sei. Aber aus weiter Ferne rief eine andere Stimme – eine Stimme, die er nur in der ersten Zeit seines Lebens gehört, und die er, obwohl kaum gekannt, doch nie vergessen hatte. Es war, als ob sie ihm klagend zuriefe und ihn warnen wollte vor einem Entsetzlichen, das ihm drohe; dann plötzlich wieder stieg ein ernstes, verzerrtes Antlitz vor ihm empor; es trug die Züge seines Vaters und war doch wieder so ganz anders, furchtbar wie ein Engel des Gerichts. Im Augenblicke war es ihm, als würden die Aeste zu Ungeheuern – er fühlte, wie diese Ungeheuer nach seinen Armen faßten, wie sie die Zähne ihres Rachens ihm in’s Fleisch schlugen, und mit einem Schrei des Entsetzens fuhr er aus dem Traume empor und fand sich, in Angstschweiß gebadet, auf seinem Lager.

Draußen war es lange schon hell geworden; auf dem Dache plätscherte nichts mehr, und nur von den Dachrändern fielen noch einzelne Tropfen und flimmerten im Sonnenscheine, der auf den Bergen eher sichtbar wird als unten in den Thälern. Der spät gekommene Schlaf war dafür um desto länger und kräftiger gewesen; es war bereits um die Zeit, wo Nebel, Unwetter und Regenschauer sich wieder zu heben und der Herbstsonne zu weichen begannen.

Lange glaubte Wildel noch zu träumen, denn ein Theil des Traumes dauerte noch fort; fein und halbverweht, wie die sanfte Stimme aus dem Traume, klang das Glockengeläute aus der Kirche seiner Heimath empor – das erste Zeichen, das zum Gottesdienste gegeben wurde. Dieser Uebergang vom Träumen in’s Wachen machte tiefen Eindruck auf ihn; er athmete hochauf; eine Bergeslast war von seiner Brust gewälzt, wie draußen in der Natur die Sturmnacht der Helle und Frische des Morgens gewichen war – auf einmal war er sich klar und der Weg, den er zu gehen hatte, lag eben und licht vor ihm. Hastigen Schrittes eilte er nicht der Alm zu, sondern den Bergpfad hinab, in der Richtung, in welcher das Himmelmoos lag.

Er wollte ruhig und offen, als Sohn vor den Vater treten und ihm das Geschehene abbitten; er wollte versuchen, ihn zu begütigen und über das Vorgefallene aufzuklären, dann aber in Frieden die Zukunft zu ordnen. Kein Zwist sollte mehr statthaben zwischen ihnen, und um demselben gründlich vorzubeugen, wollte er sich wieder fortbegeben und in der Stadt nach Arbeit suchen, die ihn zu ernähren und ihm Verdienst zu gewähren vermöchte. Nach ein paar Jahren hoffte er wohl im Stande zu sein, sich ein eigenes Heim zu gründen, in welches er dann Engel einführen konnte, denn der Gedanke an sie, der Wunsch, sie sein zu nennen, stand so fest wie zuvor vor ihm; ja, von den Stürmen gerüttelt, hatte der Keim noch tiefere Wurzel geschlagen. Sollte der Vater sich dennoch unzugänglich zeigen, so wollte er ohne Erbitterung das Haus verlassen und sich an den Pfarrer wenden, damit dieser durch seine Vermittlung das unvermeidlich Nöthige ordne. Bis dahin, so sehr das Herz ihn zog, wollte er darauf verzichten, Engel zu sehen, und nicht eher als mit einem bestimmten Entscheide vor sie treten.

Bald war er auf einer Stelle angelangt, von welcher er, durch Gebüsch verdeckt, den Hof in der Tiefe liegen sah und eine weibliche Gestalt beobachten konnte, die eben das Haus verließ. Vertraut mit den Gebräuchen desselben, wußte er, daß der Bauer die Kirchwacht halten werde und er sicher sei, ihn allein zu treffen; um seine Gedanken zu sammeln und den rechten Augenblick abzuwarten, kauerte er sich im Grase nieder und starrte hinunter auf das Vaterhaus, das ihm so nahe war und dem er doch beinahe ein Fremder geworden.

Er fühlte, wie sich ihm das Blut wieder nach Kopf und Stirn drängte, und darüber geschah es, daß die Ermüdung der vorigen Stunden noch nachwirkte und er abermals in Schlaf versank, aus welchem er erst nach geraumer Zeit wieder mit dem Gefühl auffuhr, als ob er von Jemand gefaßt und aufgerüttelt worden wäre. Hastiger eilte er jetzt den Bergweg hinab, die gute Stunde des Alleinseins nicht zu versäumen; als er aber den Grashang erreichte, von welchem aus der Hof in nächster Nähe zu erreichen war, hielt er plötzlich inne, denn auf den ersten Blick gewahrte er, daß auf dem Hofe, den er leer zu finden gehofft, eine große Menschenmenge versammelt war, welche nur durch etwas Ungewöhnliches zusammengerufen sein konnte. „Was giebt es denn da?“ murmelte er überrascht. „Ist das Amt schon aus? Was wollen die vielen Leut’? Sie stehen Alle um die Kalkgrube herum; es ist gerade, als wenn dort etwas geschehen wäre.“

Er begann den Hügel abwärts zu laufen und gelangte nach wenigen Augenblicken an die Seite des Gehöftes, an welcher neben dem neu zu erbauenden Capellenthürmchen sich die Kalkgrube befand; eine dichte Schaar Menschen war um einen Gegenstand versammelt, der auf einer Bank zu liegen schien und um den Alles sich neugierig zusammendrängte.

„Was giebt’s denn da – was ist geschehen?“ rief Wildl hinzustürzend und versuchte den Knäuel der Umstehenden zu durchdringen – da trat Judika, die ihn zuerst erblickt hatte, ihm entgegen und fiel ihm schluchzend um den Hals.

„O mein Bub’,“ rief sie, „was ist das für ein Unglück! Der Vater ist todt.“

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_432.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)