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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


uns[WS 1] fragen, ob das auch wirklich derselbe Fürst war, der einst den gleichfalls hierherberufenen Lessing in elender Stellung hatte verkommen und sich verbittern lassen. Der grelle Widerspruch löst sich aber, wenn wir bedenken, daß der Herzog vorwiegend praktische Ziele im Auge, daß er nicht den Blick des weimarischen Karl August für die ernste Bedeutung des blos schriftstellerischen und dichterischen Schaffens hatte. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß Campe von jener üblen Behandlung Lessing’s gewußt, aber wir haben kein Zeugniß, wie er darüber geurtheilt hat. Gewiß nur ist, daß er zu den Auserwählten gehörte, welche für die im Ganzen erst von der Nachwelt erkannte Bedeutung des großen Gedankenkämpfers schon bei dessen Lebzeiten ein volles Verständniß hatten, daß er in Liebe und Bewunderung zu ihm aufblickte, wie ein Jünger zu seinem Meister. Als Lessing nach Wolfenbüttel ging, rief Campe in einem schwungvollen Gedichte seinem braunschweigischen Vaterlande zu: „Sei stolz! Ein neuer Glanz verbreitet sich über Deinen Ruhm … In Famens Tempel wird Dein Name brennen, seit Lessing Deine Grenzen ziert.“ Auch war es Campe, der auf dem braunschweigischen Friedhof das bereits eingesunkene Grab Lessing’s wieder ausfindig gemacht und es durch einen einfachen Denkstein vor dem Vergessenwerden bewahrt hat.

Wenn es der Reactionsclique gelungen war, die beabsichtigte reformatorische Schulwirksamkeit Campe’s lahm zu legen, so waren diese Feinde doch ohnmächtig, der Kraft und dem Einflusse seines Wortes Schranken zu setzen. Die Gedanken, welche er thatsächlich nicht ausführen durfte, wurden dennoch weiter in alle Welt getragen durch die feurigen Zungen der Presse. Unter dem Schutze des Herzogs, der ihm Befreiung von der Censur gewährte, schwang sich seine literarische Thätigkeit in Braunschweig zu einem Glanze und einer Höhe publicistischen Wirkens und Einflusses auf, dessen Folgen unbedingt fortgelebt haben in allen späteren Entwickelungen deutschen Freiheitsstrebens. Wie gegenwärtig die pietistische Partei der inneren und äußeren Mission bestimmte Herstellungs- und Betriebsstätten für ihre Agitationsschriften hat, so gewann die Aufklärungsbestrebung damals einen glücklichen Mittelpunkt in dem von Campe unter der Firma „Braunschweigische Schulbuchhandlung“ gegründeten Verlagsgeschäft nebst Druckerei, ein Unternehmen, das der Herzog durch Schenkung und Ueberlassung von fürstlichen Gebäuden auf das Kräftigste unterstützte. Von hier aus gewannen Campe’s frühere Erziehungs- und Jugendschriften einen unglaublichen Absatz; hier führte er seine große „Schul-Encyclopädie“ in’s Leben, eine vollständige Sammlung neuer, den Fortschritten der Bildung entsprechender Schulbücher; hier begründete und leitete er mit erlesenen Genossen jenes „Braunschweigische Journal“, das als Pionier der deutschen Publicistik bezeichnet werden muß und durch seine scharfen, lebendig und elegant geschriebenen Erörterungen tiefer in die Zeit griff, als irgend ein früheres periodisches Unternehmen. Dabei benutzte der gewandte Kämpfer jede sich darbietende Gelegenheit, für die Sache des Fortschritts seine Stimme zu erheben.

Als nach dem Ableben Friedrich’s des Großen der Nachfolger desselben den Thron bestieg, der ja Campe früher durch besonderes Vertrauen ausgezeichnet hatte, da richtete dieser an den neuen König jene damals so berühmt gewordenen und mit Unrecht vergessenen „Fragmente über einige verkannte, wenigstens ungenutzte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung und des Wohlstandes“ – ein kühl erscheinender Titel, hinter dem aber ein ungemein warmer Inhalt liegt. Oeffentlich, unter den Augen des großen Publicums stellt hier der einzelne Schriftsteller seine aus dem Denken erzeugten Forderungen direct an den Träger der höchsten Gewalt. „Vernunft und Aberglaube,“ so schreibt er demselben, „Aufklärung und neue Verfinsterung des menschlichen Geistes, Gewissensfreiheit und Gewissenszwang liegen – jene mit ihrem ganzen Segen, diese mit ihrem ganzen Gräuel – auf der Wage; des großen Friedrich Nachfolger steht daneben. Ein Wink von ihm – und das Glück der Menschheit ist entschieden, es hebt ein Zeitalter an, goldener und seliger als jenes in der Fabel.“ Das Merkwürdige an der Schrift ist, daß es schon die socialen Uebel und wirthschaftlichen Schäden der Zeit sind, auf welche Campe hier vornehmlich seine Aufmerksamkeit richtet; er sinnt, wie die Menschen wieder emsiger, industriereicher, erwerbsamer gemacht werden können. Es ist natürlich Fragliches in diesen Ausführungen, und es findet sich überhaupt Manches darin, das eine weitere Erkenntniß, eine tiefere Ergründung als unzulänglich und unhaltbar herausgestellt. Aber abgesehen von solchen Einzelnheiten, ist die Grundanschauung des Ganzen eine bewunderungswürdig gesunde, und zu wirklich prophetischem Schwunge erhebt sich der Gedankengang in dem Abschnitt, der vom König, dem wüsten Hader und Despotismus des engherzigen Theologentreibens und Confessionswesens gegenüber, eine consequent durchgeführte Duldung aller religiösen Standpunkte und Ueberzeugungen verlangt und die beglückenden Folgen dieser allgemeinen und vollkommenen Gewissensfreiheit für Staat und Volk in den begeisterungsvollsten Ausdrücken schildert – ein von edler Gluth, von heiligem Glauben an die Freiheit durchhauchtes Kampfeswort, das wie ein Blitzstrahl in die gedrückten Stimmungen und verrotteten Zustände jener Tage fiel.

Aber Campe’s aufrüttelnde Thätigkeit wider den Geist der Verfinsterung, wider verknechtende Unwissenheit und priesterliche Herrschsucht, ist mit der Hinweisung auf jene „Fragmente“ noch nicht bezeichnet. Mit feuriger Energie und einer Unermüdlichkeit ohne Gleichen führte er den Kampf auf die verschiedensten Gebiete, und wir heben hier aus der großen Zahl seiner Schriften nur das 1789 erschienene, in einer langen Reihe von Auflagen verbreitete Buch „Väterlicher Rath an meine Tochter“ hervor, das noch heute in möglichst weiten Kreisen gelesen und beherzigt werden sollte. Die Frage eines nach Inhalt und Form der Zeitbildung entsprechenden Religionsunterrichts steht bei uns noch immer unentschieden auf der Tagesordnung, und der Streit über den Gegenstand ist selbst im großen Lager der Liberalen ein ebenso heftiger wie endloser. Sollte man hier nicht bei den scharfsichtigen Aufklärungsmännern des vorigen Jahrhunderts ein wenig in die Schule gehen und, trotz alles in mancher Hinsicht sehr unberechtigten Fortschrittsdünkels, Einiges von ihnen lernen können? Höre man zum Beispiel, wie Campe vor nun beinahe neunzig Jahren seine Tochter und somit ihre Altersgenossinnen öffentlich über die Punkte belehrte, die sie, den Anforderungen eines damals noch ganz unerschütterten Glaubens- und Kirchenzwanges gegenüber, von ihrem religiösen Anschauen und Empfinden fern halten sollen. Er schreibt: „1. Alles, was Dir nach redlicher Anstrengung aller Deiner Seelenkräfte dennoch unverständlich bleibt, oder in einem wirklichen Widerspruche mit anderen völlig ausgemachten Wahrheiten der Vernunft und der Religion steht, das gehört nicht zur Religion, wenigstens nicht zu Deiner Religion, und Du bist berechtigt, es davon auszuschließen. Denn kein Mensch ist verpflichtet, etwas zu erkennen, was er nicht erkennen kann, oder etwas anzunehmen, was anderen als gewiß erkannten Wahrheiten widerspricht. Dieser Satz leidet keine Ausnahme. 2. Alles, worüber Diejenigen, welche der Gottesgelehrsamkeit ihr Leben gewidmet haben, unter sich selbst uneins sind, worüber sie sich zanken, anfeinden und verfolgen, das gehört nicht zur Religion, wenigstens nicht zu der Religion, welche Christus uns gelehrt hat. Wie könnte dem bloßen Laien zugemuthet werden, daß er heller sehe, als seine Führer? Wie könnte etwas ein Theil des Evangeliums sein, d. h. einer frohen, beseligenden Verkündigung, was die Menschen zänkisch, hart, lieblos und verfolgungssüchtig macht? 3. Alles, was keinen Einfluß auf unser Leben und auf unsere Handlungen hat, was weder zur Verbesserung und Veredlung, noch zur Beglückung der Menschen taugt, das gehört nicht zur Religion, die in allen ihren Theilen eine Lehre zur Tugend und Glückseligkeit sein soll.“

Gewiß, es war ein bewegungsschwangeres, auf große Umwälzungen hinarbeitendes Jahrzehnt, durch dessen verfinsterte Atmosphäre von allen Seiten her solche lichte, so bewußt, so entschieden und kampfesmuthig gegen eine traurige Wirklichkeit sich auflehnende Gedanken zuckten. Aus solcher Gewitterschwüle mußte nothwendig die Explosion sich erzeugen; es mußte einem unerhörten Drucke endlich die Erhebung der niedergetretenen Völker folgen. In Frankreich kam der Gedankensturm 1789 zu thätlichem Ausbruch. Campe gehörte zu jenen hervorragenden Denkern Deutschlands, welche dieses erste Heraufleuchten des Menschen- und Volksrechtes in der europäischen Geschichte mit Bewunderung und großen Hoffnungen erfüllte. Mit seinem einstmaligen Schüler Wilhelm von Humboldt eilte er nach Paris. Seine damals

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: und
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_421.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)