Seite:Die Gartenlaube (1877) 401.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


sich damals der freisinnige Teller und der orthodoxe Dunkelmann Carpzow kämpfend gegenüber. Der junge Student fühlte sich sofort mächtig zu Teller hingezogen, saß eifrig zu den Füßen dieses großen Theologen und schärfte seinen Geist an der Erklärung der Bibel und an dem Studium der hebräischen und griechischen Sprache. Rings um die beiden Lehrer wogte ein leidenschaftlicher Parteistreit in Betreff der von ihnen vertretenen Standpunkte, Campe stand indeß fest zu dem Manne der freien Forschung, und es konnte ihn in seiner Armuth wohl betrüben, aber nicht zum Heuchler und in der Verfolgung seiner Richtung nicht irre machen, als die braunschweigische Landschaft ihm ein von ihr bewilligtes Stipendium (jährlich hundert Thaler) aus Gründen entzog, die auch heute noch mannigfach bei solchen Zuwendungen entscheidend sind, wenn man auch nicht mehr naiv genug ist, sie so unverhohlen einzugestehen, wie es damals die braunschweigische Landschaft gethan hat. Diese schrieb nämlich an Campe, „man sei nicht gewillt, die Wohlthaten des Vaterlandes an einen leichtsinnigen(!) Jüngling zu verschwenden, der von verrufenen Irrlehrern (Teller!) sich zum Irrglauben verführen lasse.“ Finanzielle Bedrängnisse und verschiedene, durch die vermehrten Entbehrungen und Anstrengungen hervorgerufene Krankheitsleiden waren die Folgen dieses Verlustes, aber sie verbitterten den frischen Humor und beugten den Muth des heitern und warmherzigen Jünglings nicht. Mit allen Kräften erstrebte er eine möglichst allseitige wissenschaftliche Ausbildung, und es zeigte sich schon damals bei ihm ein lebhafter Drang und eine entschiedene Fähigkeit zu schriftstellerischem und dichterischem Schaffen. Von Helmstedt war er 1768 nach Halle gegangen, und hier übte Semler, damals der kühnste und bedeutsamste unter den Vorkämpfern der freimüthigen protestantischen Theologie, einen mächtig bestimmenden Einfluß auf die Entwickelung des neuen Jüngers. In Halle selber aber gefiel es demselben nicht, und da seine Universitätsstudien ohnedies beendigt waren, zog es ihn nach Berlin, wo eben unter dem Schutze des großen Friedrich ein neues Geistesleben zu erblühen schien und wohin jetzt Alles den Blick gerichtet hielt, was an aufstrebender Kraft und an hochfliegenden Hoffnungen in Deutschland sich regte.

Durch Empfehlung Teller's kam denn auch der junge Candidat als Erzieher in das Haus des Major von Humboldt, wo er zuerst den Stiefsohn desselben unterrichtete, später aber auch der erste Lehrer und Erzieher der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt wurde. Ein schönes Zeugniß für Campe und für die bereits von ihm erlangte Geistes- und Charakterreife liegt in dem Umstande, daß er nicht blos in der ausgezeichneten Häuslichkeit, die ihn gern zu den Ihrigen zählte, sondern auch in den hochgebildeten Gesellschaftskreisen, unter den Schriftstellern und sogenannten Weltweisen der Hauptstadt eine beachtete und angesehene Persönlichkeit war. Seine dichterischen Beiträge zu Göckingk’s Musenalmanach und namentlich seine philosophischen Abhandlungen zeigten nach Inhalt und Stil einen durch Bildung und Begabung über das Mittelmäßige sich erhebenden Menschen, während seine Erscheinung, die ziemlich hohe und schlanke Gestalt, das edel und regelmäßig geformte Antlitz mit dem seelenvollen Auge einen herzgewinnenden Eindruck machten, der noch wesentlich verstärkt wurde durch eine ungezwungen bescheidene und doch eigenthümlich feierliche Weise des Auftretens und Benehmens. Auch mit den Hofkreisen kam er in freundliche Berührung, so daß ihn der damalige Kronprinz (nachherige König Friedrich Wilhelm der Zweite) zum Feldprediger in Potsdam berief, wo er von 1775 ab auch eine Zeitlang als Prediger an der Heiligengeistkirche wirkte. Das geistliche Amt aber befriedigte seinen inneren Drang und gewann seine Zuneigung nicht, wenn es ihm zunächst auch, trotz des dürftigen Gehalts, die hinreichende Selbständigkeit gegeben hatte, mit seiner geliebten Marie Hiller in Berlin jenen Ehebund zu knüpfen, der Jahrzehnte hindurch für ihn und alle Genossen und Freunde seines Hauses durch die ausgezeichneten Eigenschaften dieser gemüth- und geistvollen, eben so anmuthigen wie tüchtigen Frau ein überaus reicher Quell des Segens geworden ist. Gerade aber diese Begründung häuslichen Glückes gab ihm gleich anfänglich der Sporn und Schwung, sein über das Enge und Alltägliche hinausstrebendes Wollen und Können nicht in pastoraler Handwerksmäßigkeit verkümmern zu lassen. Von Dessau winkte das Philanthropin mit der Aussicht auf eine bedeutsame, der gesammten Menschheit geltende reformatorische Thätigkeit, auf die Verwirklichung hoher, mit aller Gluth der Seele längst von ihm erfaßter Ideale. Wir haben gesehen, wie diese Hoffnungen Campe's und des ihm stets wohlwollend gebliebenen Fürsten Franz an der Unreife der Zustände und an der Unzulänglichkeit der Menschen gescheitert sind.

Als Campe „aus Gewissensdrang“ heimlich von Dessau entfloh, hatte er eine begründete Stellung und eine gesicherte Zukunft für sich und die Seinigen aufgegeben. Ohne jeglichen Boden und Rückhalt stand er allein auf der Welt, ganz nur auf seine eigene Kraft angewiesen inmitten eines Vaterlandes, das im Ganzen für die Stimme des Geistes noch nicht viel Gehör und Theilnahme zeigte. Der Zustand des Volksgeistes und der Unterthanenschaften war weit und breit noch ein verwahrloster, die politische Lage des Bürgerthums eine tiefherabgedrückte, die Theilnahme für Allgemeines und Geistiges nichts weniger als rege. Dahin hatten Jahrhunderte hindurch Zersplitterung und Ohnmacht, sowie ein umfassender geistlicher und weltlicher Despotismus jene Millionen gebracht, die nur durch den Mutterboden, auf dem sie wohnten, und durch die Gleichheit ihrer Sprache, ihres Charakters und ihrer Sitten als eine zusammengehörige deutsche Nation sich zu erkennen gaben. Aber seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war endlich der Wendepunkt eingetreten, wo dies anders werden sollte. Die Nation war ja nicht gestorben, sondern nur durch die willkürliche Gewaltherrschaft ihrer Bedränger in Betäubung und unbeholfene Erstarrung versetzt; nach langer und regungsloser Stumpfheit erwachte in den Tiefen ihrer Seele die warme und herzensfrische Lebenskraft und kündigte zunächst in dem majestätischen Aufstrahlen einzelner Lichter sich an. Nacht war es ringsumher noch in den Geistern der Massen, aber um Erwecker wie Lessing, wie Klopstock etc. sammelte sich bereits eine Schaar empfänglicher Jünger, deren Kreis mehr und mehr sich vergrößerte. Aufklärung und Humanität wurde der Schlachtruf dieser Bewegungsmänner und mit Wort, Schrift und That eröffneter sie den Kampf gegen eine versteinert in den Köpfen und Herzen sitzende Weltanschauung voll roher Unduldsamkeiten und engherziger Vorurtheile, voll hochmüthiger Menschenverachtung oder knechtischer Würdelosigkeit.

Die Gemeinde dieser „Aufgeklärten“ war nicht groß, aber sie war fast über alle Theile Deutschlands verbreitet und bestand meistens aus bewußten, hingebenden, zu thätigem Eingreifen entschlossenen und befähigten Streitern. Die Literatur und die Acten der Zeit geben Zeugniß von der Inbrunst und Energie, mit welcher diese ersten Entzünder des Lichtes ihren Ueberzeugungen Bahn zu brechen und ihr Werk zu fördern suchten. Das war die Fahne, zu welcher auch Campe sich gesellt hatte; die Verbreitung und Befestigung humaner Bildung, das Wirken für Befreiung, Duldung und Menschenversöhnung wurde für ihn immer mehr und mehr die Aufgabe, der er sein Talent, sein reiches Wissen und helles Denken, allen hohen Ernst seines Wesens, allen Drang und alle Kraft seines unleugbar reinen, liebreichen und tapferen Herzens zur Verfügung stellte. Kenner unserer Zeitgeschichte wissen sehr wohl, daß es später im Bereiche der „entschiedener“ fortgeschrittenen Standpunkte Mode wurde, mitleidig auf den Ideengehalt jener Aufklärungsperiode des achtzehnten Jahrhunderts herabzusehen und denselben höhnisch als schwächlichen und seichten „Aufkläricht“ zu bezeichnen. Dieser Hochmuth aber ist wieder verstummt oder doch bedeutend kleinlauter geworden, seitdem ein eingehenderes Studium der geschichtlichen Zusammenhänge das Gefühl der Gerechtigkeit und Dankbarkeit in Bezug auf Vergangenes geweckt und seitdem tief eingreifende Vorgänge unserer Tage uns handgreiflich belehrt haben, daß wir mit unseren größeren Erfahrungen und unserer tiefer und weiter gewordenen Erkenntniß im Grunde doch noch denselben Kampf zu führen haben, den die Geistesapostel des vorigen Jahrhunderts gegen Dummheit und Verwahrlosung, gegen staatlichen Despotismus und pfäffische Verfinsterung für eine bessere Erziehung und Belehrung des Volkes in so eifriger und musterhafter Weise zuerst eröffnet hatten. Wohl uns, wenn die Menschheit jetzt schon auf dem Punkte stände, wohin ein Campe vor mehr als hundert Jahren sie heben und bringen wollte!

Hamburg gehörte zu den Orten, wo der bezeichnete Umschwung des geistigen Lebens in den gelehrten sowohl wie in den kaufmännischen Kreisen eine beträchtliche Schaar treuer und verständnißvoller Anhänger gefunden hatte. Der flüchtige Campe

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_401.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)