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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

ahnungslosen, pelzentbehrenden Mitteleuropäer in dem pfeilschnellen Drosky über die Perspective rasten, dem Nicolai-(Moskauer) Bahnhofe zueilend, wo die Ankunft der Majestäten für punkt zehn Uhr angesagt war. Viele hatten den nämlichen Weg genommen, und die Evastöchter legten, um den Kaiser und sein glänzendes Gefolge zu sehen, die nämliche löbliche Neugierde an den Tag – wie die Männer. Einzelne der Schönen, die unter ihren rothen Pelzmänteln die anmuthigsten Pariser Sommertoiletten bargen, brachten es bis in den für die officielle Suite der Generalität bestimmten Wartesalon, wo die Spitzen der Generalität und die höchst ehrbar aussehenden Vertreter der Dumba (Stadtverordnete) sich eingefunden hatten.

Man mag über Rußland denken wie man will, dem schönen kräftigen Menschenschlage, der da im hohen Norden gebietet, kann man die Anerkennung nicht versagen. Aber nicht allein die adeligen Gardeofficiere dürfen sich als Muster von schmucker, hochaufgeschossener, aber doch geschmeidiger Eleganz qualificiren, die einfachen Gensd’armen die sich bemühen, unter dem herandrängenden Publicum ein wenig Ordnung aufrecht zu erhalten, sind wirkliche Prachtstücke. Ständen sie nicht in des Czaren wohlnährenden Diensten, sie könnten sich auf Jahrmärkten dreist als „Riesen“ für mäßiges Entrée bewundern lassen. Daß die blendend weißen Tunikas, mit Sternen und Orden bedeckt, die vielen silbernen Tressen und die großen blanken Helme mit den goldenen Adlern und den weißen Federbüschen zu den Gestalten und Physiognomien vortrefflich paßten, versteht sich von selbst.

Karte des europäisch-orientalischen Kriegsschauplatzes.

Militärische Präcision war von jeher am Petersburger Hofe unumgängliches Gebot; die peinliche Beobachtung der für einen bestimmten Zweck angesetzten Minute stammt noch aus der Zeitepoche Nicolaus’; diese Eigenschaft ging nun vollständig auf den Sohn über, der ja durch väterliche Anlagen und Erziehung durch und durch Militär ist. Der Kaiser wartet auf Niemanden, läßt aber auch Niemanden auf sich warten – das wußten recht gut die Führer des Hofkreises. Wie der kleine Zeiger der Bahnhofuhr Zehn markirte, rollte auch der Zug in die Halle. Es war ein stattlicher Train, aus etwa acht bis zehn Salonwagen und ungefähr vier Packwagen bestehend. Voran befanden sich der eigentliche Salonwagen des Kaisers und jener der Kaiserin. Die beiden Waggons sind Musterexemplare des Comforts und fürstlichen Luxus auf Schienen. Wenn man durch das äußere Gebäude, welches ein zierliches Gitter aus vortrefflich gearbeitetem Gußstahl umgiebt, in das Innere des Raumes tritt, so kann man sich in den schönsten Salon eines Lustschlosses versetzt glauben. Schwere seidene Gardinen rauschen um die hohen Thürfenster; den Boden bedeckt ein kostbarer Aubusson-Teppich, auf welchem dem Klima zu Liebe die blendend weißen Felle von Polar-Bären ausgebreitet liegen. Die Tische und Chiffonièren sind aus dem schönsten Ebenholze und in ausgesuchtester Weise gearbeitet, die Fauteuils, Touffs und Canapés aus Repsstoff, jener goldmatten bräunlichen Farbe, welche die Pariser eine Zeit lang, man weiß nicht recht warum, Couleur Bismarck nannten. Die Wände schmücken Bilder und venetianische Spiegel, und aus allen Ecken duften die seltensten Tropenpflanzen, ebenso wie auf dem Tische, der in der Mitte des Waggons steht, ein weißes Bouquet niemals fehlen darf. Dies der Hauptsalon; das Schlafzimmer, mit anstoßender Toilettekammer, und der kleine Speisesalon, wo zur Noth ein Tisch von zehn Couverts gedeckt werden kann, entspricht dieser Ausstattung.

Außerdem haben aber diese fahrenden Prachträume eine historische Bedeutung. Sie gehörten früher dem Herrscher der Franzosen, ehe sie von dem Gebieter Rußlands erstanden wurden. In diesem Salonwagen eilte Napoleon, kurz nach dessen Herstellung, dem italienischen Kriegsschauplatze zu, um Lorbeerernte zu halten; in diesem Wagen durchfuhr er fast alljährlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_373.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)