Seite:Die Gartenlaube (1877) 372.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Küster der katholischen Kirche, den man aus dem Schlafe weckte, die Thurmschlüssel ab und begannen die Sturmglocken zu läuten, deren mächtige Stimme die Kunde vom Beginn des Aufruhrs heulend über die Stadt hin trug. Handlaternen fackelten da und dort in den Straßen; das Metall von Waffen und Geräthen blitzte auf, und dunkle Trupps von Männern eilten der Kaiserstraße zu. Auf der Chaussee draußen, an der engen Wegstelle vor der Schmiede, wo links eine steile, tiefe Böschung in den Fluß hinab fiel, rechts der Bergrest ein für Pferde unüberwindliches Hinderniß bildete, flammte ein Riesenfeuer auf; an den benachbarten Pappeln arbeiteten schrille Sägen; Wagen wurden herangefahren, und auf der Seite nach der Schmiede zu grub man den Chausseedamm aus. Eine zweite Barricade erhob sich vor der Brücke, welche zum Bahnhofe über dem Flusse drüben führte; an den beiden kleineren Brücken, bloßen Holzbauten, wirthschafteten Säge und Axt, um sie unpassirbar zu machen. Man konnte mit dem Vortheil rechnen, daß in der nächsten Garnisonstadt nur Cavallerie und Artillerie lag.

Der Pascha machte zwei Gänge, bevor er sich zu den Arbeiten begab; der erste galt seiner Mutter. Er gab sich alle Mühe, die aufgeregte alte Frau zu beruhigen, welche der Lärm vor dem Wiedenhofe wach gehalten und gleichzeitig mit der Einkerkerung des Sohnes bekannt gemacht hatte. Er sprach warme und begeisterte Worte von seiner Mission, seinen politischen Idealen, von der Freiheit, welche ein echter Patriot im äußersten Falle bereit sein müsse, mit dem eigenen Herzblute vor gänzlichem Verschmachten zu bewahren, wie der Pelikan der Sage die dürstenden Jungen. Aber Frau Hornemann hatte kein Verständniß für politische Ideale, wie die meisten Frauen. „Ich werde Dich verlieren, mein Sohn,“ sagte sie; „wenn Du am Leben bleibst, was Gott gebe, so werden sie Dich für lange Jahre in’s Gefängniß schleppen, und ich alte Frau werde einsam zurückbleiben in dem alten Hause – das ist Alles, was ich begreife.“

„Emilie bleibt Ihnen, Mutter. Ich werde zu ihr gehen und mit ihr reden.“

Frau Hornemann lächelte ein wenig bitter. Ihre Lippen zitterten, als sie den Sohn küßte. „Gott sei mit Dir!“ sagte sie und fuhr sich über die gerötheten Augen, denen das Weinen so schwer wurde.

Auch die Schwester fand der Pascha noch munter, und sie sah gar nicht so kühl und zurückhaltend aus, wie er erwartet hatte; ihr ganzes Wesen war lebhaft bewegt, und als er ihr beim Lampenscheine in’s Gesicht blickte, kam es ihm etwas verstört vor. Sie trat ihm mit der Frage wegen der plötzlichen Abreise Zehren’s entgegen, indem sie die Vermuthung aussprach, daß der Bruder die Veranlassung zu derselben wisse. Im Moment, da Karl Hornemann seine gänzliche Unkenntniß betheuert hatte, brachen dröhnend die ersten Klänge der Sturmglocke aus den Schalllöchern, und die junge Frau horchte erblassend auf.

„Was ist das, Karl?“

In den treuen, braunen Augen des Pascha leuchtete es schwärmerisch. „Die Stimme des Schicksals, Milli; Tod oder Freiheit, Nichts oder Alles – hörst Du das Herüber und Hinüber? In einigen Stunden sind ein paar tüchtige Barricaden fertig.“

„Allmächtiger! Wie ist das gekommen?“

„Wie die meisten großen Katastrophen – Blitze aus heiterem Himmel.“ Er berichtete ihr in fliegender Eile das jüngst Erlebte, und sie neigte sich vor und hörte athemlos zu. „Willst Du nicht zur Mutter gehen?“ schloß er; „die Einsame wird sich in den nächsten Stunden doppelt einsam fühlen.“

„Ich darf nicht, Karl; ich kann das Haus nicht gänzlich ohne Aufsicht lassen. Warum auch heute gerade dieser unselige Zufall, welcher Zehren zum Reisen nöthigt!“

„Du hast Recht,“ meinte er und blickte nachdenklich zur Seite. Als er ihr das Gesicht wieder zuwandte, lag ein leiser Ausdruck von schüchterner Beklommenheit in seinen Zügen. „Wir werden morgen wohl schon das Militär uns gegenüber haben, Milli,“ sprach er, „und es könnte geschehen, daß mir etwas Menschliches passirt. Nimm Dich alsdann der Mutter an! Und noch etwas, Milli! Du hast mir lange gezürnt, weil ich andrer Ansicht war über das, was zu Deinem Glücke diente, als Du. Vielleicht daß ich im Irrthum war; wenigstens ist Eure Ehe keine vollkommen glückliche –“

„Woher weißt Du das?“ unterbrach sie ihn hastig, und über ihr Antlitz flammte ein brennendes Roth. „Was hat Dir Zehren gesagt?“

Er sah sie betroffen an. „Nichts hat er mir gesagt; ich dachte nur, wenn Ihr glücklich wäret, würde ich nicht so lange Deine Verzeihung entbehrt haben. Es ist so hart, zu lieben vor kalten Augen und kaltem Herzen; meine Liebe zu Dir war eine zitternde Rose in Herbstfrosttagen, Milli, und der Frost hat ihr weh gethan. Zürne mir wenigstens dann nicht mehr, wenn ich sterben sollte; willst Du mir das versprechen?“

Sie warf sich mit leidenschaflicher Heftigkeit an seine Brust, und ihre Thränen rannen und mischten sich in ihre Küsse. „Ich habe Dich immer lieb gehabt, Karl, mein süßer Bruder; Du weißt nicht, wie schwer es ist, künstliches Eis um ein brennendes Herz zu legen.“

Er preßte sie einen Augenblick fest an sich. „Leb wohl!“ sagte er dann und löste sich sanft von ihrer Brust. „Vielleicht daß Du doch noch glücklich wirst. Grüße Deinen Gatten, wenn ich ihn nicht wiedersehen sollte!“

Als er drunten den Canal entlang ging, fühlte er, wie sein Herz tief wund war und wie der Nebel einer bangen Ahnung bleiern darauf lagerte. „Vorwärts!“ sagte er für sich und ballte die Fäuste; „jetzt bin ich Soldat.“ – –

(Fortsetzung folgt.)


Streifzüge bei den Kriegsführenden.

2. Noch immer in der Stadt des Czaren.
Rückkehr des Kaisers. – Der schöne Menschenschlag an der Newa. – Russische Präcision. – Kaiserliche Waggons und ihre Napoleonische Vorgeschichte. – Die Physiognomie der Romanows. – Empfang des Kaisers und eine begeisterte Generalität. – Der Leibkutscher des Czaren – St. Petersburg im Festschmuck. – Die Söhne des Don und des Dnieper. – Eine ergreifende Pause vor der Kasanskirche. – „Große Illumination“, die „Mai-Parade“ und die Mündigkeitserklärung des Herzogs von Leuchtenberg. – Ein französisches perpetuum mobile.

Unten auf dem Kriegsschauplatze rücken Infanteristen und Kosaken in langen, sackähnlichen Kitteln und in der sonstigen mehr zweckmäßigen als eleganten Kriegsausrüstung ihrem Ziele, der Ueberschreitung der Donau, näher. Hier aber in der russischen Reichshauptstadt konnte man sich die ganze soeben verlebte Woche hindurch an den prunkvollen, verschwenderisch ausgestatteten Galauniformen, an dem goldenen Funkeln und dem albernen Blinzeln der Elite der russischen Armee gar nicht satt sehen. Bei drei rasch aufeinander folgenden Anlässen war es uns vergönnt, die russische Garde in voller Parade ausrücken zu sehen und beinahe hätten wir – wenn uns der Himmel zu einem Schnellrechner gnädigst ausgestattet haben würde – Gelegenheit gehabt, bis auf etliche Kopeken die Unsummen zu berechnen, welche die Ausrüstung eines solchen Regiments oder einer derartigen Schwadron verschlingt. Die drei erwähnten Anlässe waren folgende: Die Rückkehr des Kaisers aus Kischineff, die große Mai-Parade und die Mündigkeitserklärung des Großfürsten Sergius.

Nachdem Alexander der Zweite von Kischineff aus den Türken als Czar und als Rechtgläubiger den Handschuh hingeworfen, nachdem diese Reise eine historische, weltbewegende Bedeutung erhalten, nachdem die Moskauer Slavenfreunde durch ihren dröhnenden Jubel die Luft um den Kreml herum erschüttert hatten, konnte die Landeshauptstadt den Kaiser nicht phlegmatisch und kühl wieder innerhalb ihrer Mauern begrüßen. Kühl? Nun, wenn die Gefühle der Petersburger von Wärme überströmten, so hatte das Wetter zu Ehren Seiner Majestät nicht mildere Saiten aufgezogen. Wir schrieben den siebenten Mai, und der Polarwind drang noch immer bis in’s Mark, als wir

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_372.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2019)