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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

einer unglaublich niedrigen Stufe stehen. Manche sind nicht im Stande zu gehen, etwas zu ergreifen oder selbstständig Nahrung zu sich zu nehmen. Der erste Unterricht hat daher zunächst die doppelte Aufgabe, das Kind leiblich und geistig zu entwickeln. Behalten wir zunächst die leibliche Erziehung im Auge, so tritt hier in überaus fruchtbringender Weise das Turnen, respective Gymnastik ein. Es ist wohl einleuchtend, daß darunter nur eine besondere Auswahl der Uebungen zu verstehen ist, die der Sehende ausführen kann. Die allen Blinden eigenthümliche schlaffe Haltung, Zaghaftigkeit und Unbeholfenheit weicht durch methodische Ausbildung in der Gymnastik (Freiübungen und Geräthturnen) einem frischen, kräftigen und selbstbewußten Wesen, welches sich in vortheilhaftester Weise in der jungen Seele wiederspiegelt.

Die geistige Erziehung entbehrt von vornherein des Hauptcanals aller seelischen Eindrücke, des Auges; sie ist deshalb genöthigt, sich an die vier andern Hauptsinne, Gefühl, Gehör, Geruch und Geschmack, zu wenden. In Bezug auf den ersteren gilt der Satz: „Die Fingerspitzen des Blinden sind seine Augen.“ Auf dem Wege des Fühlens und Tastens werden ihm alle Formvorstellungen übermittelt; deshalb wird der Ausbildung des Tastsinnes und seines Werkzeuges, der Hand, die größte Aufmerksamkeit gewidmet.

Sieh nach!“ ruft der Lehrer dem Kinde in verschiedenen Unterrichtsstunden zu.

„Ich muß doch ‚nachsehen‘, welche Personen im Zimmer sind“, hören wir den Blinden sagen, indem er die Anwesenden betastet. Um seine Mitschüler zu erkennen, genügt oft ein leichtes Streichen über die Kleidung derselben; bei näherer Bekanntschaft bestimmt er den Namen des Betreffenden sogar nach den Athemzügen oder dem Geruch. Wenden wir uns zu den Unterrichtsgegenständen, bei denen die Vermittelung der Hand eine große Rolle spielt! In der königlichen Blindenanstalt kommen mehrere Systeme des Lese- und Schreibunterrichts zur Anwendung, die entweder die Communication mit den Sehenden oder mit den Blinden bezwecken. Für letztere ausschließlich ist die französische Punktschrift (Braille’s System) eingeführt, eine sinnreiche Erfindung des Pariser Blindenlehrers Braille. Zur Herstellung derselben dient eine Tafel in Großoctavform aus Zink- oder Eisenblech. Mit Hülfe eines messingenen Lineals und stumpfen Stahlstiftes drückt der Blinde in das eingespannte Papier Punkte und zwar von rechts nach links, diese Punkte, welche in zwei Reihen von einem bis sechs anwachsen

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a b c d etc.

, erscheinen auf der untern Seite des Blattes erhaben und werden dann, nachdem dasselbe herumgedreht, von links nach rechts gelesen. Das zweite System ist eine Blauschrift, für Blinde zu schreiben, aber nur von Sehenden zu lesen. Zur Ausführung dient eine ähnliche Tafel, wie die oben genannte; in dem über dem Papier liegenden Messinglineal sind kleine Oeffnungen mit verschiedenen Richtpunkten angebracht, innerhalb deren die Buchstaben mit einem spitzen Stahlstift zur Darstellung gelangen; durch abfärbendes Blaupapier entsteht auf dem darunter befindlichen weißen Papier eine Schrift, die mit einer telegraphischen Depesche in Druckbuchstaben große Aehnlichkeit hat. Wie groß ist nicht die Freude der Angehörigen, von dem bisher zu Allem unfähig gehaltenen blinden Kinde den ersten Brief zu erhalten! Ein drittes System, welches alle Schüler erlernen, führt den Namen „erhabene Uncialschrift“; die Buchstaben erscheinen auf starkem Papier reliefartig und werden von den Schülern der Anstalt theilweise durch Druck in einer eigens dazu eingerichteten Druckerei hergestellt. In diesem Systeme sind auch die meisten Werke, welche zum Lesen für Blinde bestimmt sind, ausgeführt: Lesefibeln, Bruchstücke der Bibel, belehrende Aufsätze etc. Punktschrift und Reliefbuchstaben werden mit den Fingerspitzen gelesen. Es ist beklagenswert, daß derartige Literatur bisjetzt noch recht schwach auf dem Büchermarkte vertreten ist, doch wird auch hierin die Neuzeit nicht zurückbleiben.

Unentbehrlich ist die Hand ferner in der Arithmetik, Geometrie, Geographie und Naturgeschichte. Im Rechnen hat jeder Schüler eine sogenannte russische Rechenmaschine (auf Draht gezogene Holzkugeln), mit welcher die ersten Zahlenbegriffe gewonnen werden; hieran schließt sich später das schriftliche und Kopfrechnen, bei welchem manches gleichaltrige sehende Kind in Bezug auf die Resultate in der Concurrenz erliegen würde.

Viele Blinde haben außerordentliches Talent für Rechnen und Mathematik, welche Erscheinung auf das vorzügliche Gedächtniß, eine Hauptkraft derselben, zurückzuführen ist. Die Geometrie hat Körper und tastbare Zeichnungen, die Geographie Reliefkarten als Anschauungsmittel. Es ist äußerst interessant zu sehen, mit welcher Sicherheit und Schnelligkeit die Schüler den Lauf der Flüsse oder der Gebirge verfolgen, mit welcher Freude sie die durch erhabene Metallbuchstaben markirten Städte „zeigen“. Großes Vergnügen pflegt der naturgeschichtliche Unterricht zu bereiten. Hier vermitteln die Fingerspitzen die Erkenntniß der Thierformen (Modelle oder ausgestopfte Exemplare), Pflanzen und Steine. Wie weit sich das botanische Wissen erstreckt, geht daraus hervor, daß viele Blinde die ihnen vorgelegten Pflanzen bis auf die Staubgefäße zu bestimmen vermögen; reicht die Fingerspitze nicht aus, so helfen Geruch und Geschmack nach.

Wir übergehen die übrigen Unterrichtsgegenstände, Religion, Geschichte, Physik, Sprache, und wenden uns zu einer Disciplin, die in der Erziehung des Blinden, ja für das ganze Leben desselben von eminentester Bedeutung ist: der Musik. Der Director des königlichen Blindeninstituts, Rösner, eine anerkannte Autorität, sagt darüber, „Organ“ XIV, 54: „Der Musikunterricht ist ein Hauptlehrgegenstand unter den Unterrichtsobjecten der Blindeninstitute, denn Natur, Neigung, Bedürfniß verweisen den Blinden auf die Musik. Ein richtiger und gründlicher Musikunterricht hat gerade hier die erfreulichsten Resultate darzulegen, derart, daß wir die Musik der Blinden nicht blos als eine angenehme Unterhaltung und eine ihrem Zustande angemessene Zerstreuung und Vergnügung in vielen einsamen Stunden ihres Lebens, auch nicht blos als ein mit Naturnothwendigkeit gefordertes Surrogat für die der Blindheit verschlossenen Reize und Freuden in den Gestaltungen der Sichtbarkeit erachten und behandeln können, sondern sie als ein wesentliches, die ganze Persönlichkeit des Zöglings veredelndes Bildungselement anzuerkennen genöthigt sind.“

Was dem Sehenden der Anblick einer Frühlingslandschaft, das ist dem Blinden das Anhören der Musik; ihren Klängen folgt er wie der Vogel dem Lockrufe. Der Musikunterricht des königlichen Instituts umfaßt Gesang, Instrumentalmusik und Theorie. Da den Blinden die Notenschrift nur in beschränktem Maße zu Gebote steht, so muß hier das Gedächtniß und ein sehr weitgehender theoretischer Unterricht eintreten; durch letztern erklären sich auch Leistungen, wie der Vortrag Bach’scher Fugen und schwerer contrapunktischer Compositionen auf der Orgel und dem Claviere. Für die „Königin der Instrumente“ hat das Institut schon bedeutende Virtuosen ausgebildet, von denen mancher als wohlbestallter Organist sich eine Existenz gegründet hat. Schreiber dieser Zeilen hörte von einem fünfzehnjährigen Schüler in der Aula der Anstalt eine Toccate von Bach mit großer Klarheit und Sicherheit vortragen; als er, um dem jungen Künstler eine Freude zu machen, eine Phantasie über einen bekannten Choral vortrug, hatte sich hinter ihm mit Blitzesschnelle ein Auditorium gesammelt, wie es dankbarer und aufmerksamer nicht leicht gefunden werden dürfte. Die blinden Kinder hatten mit feinem Ohre die oftgehörte Toccate von der neuen Pièce durch mehrere Etagen hindurch zu unterscheiden gewußt.

Das in der Musik gestellte und mögliche Pensum für Blinde ist ein sehr hohes; bei Erreichung desselben hören wir von einem Gesangchor unter Begleitung aller Streich- und Blasinstrumente einen Theil der Haydn’schen „Schöpfung“ oder Fragmente des „Paulus“ von Mendelssohn. Vielen Blinden dient die Erlernung eines Instruments als spätere Erwerbsquelle. – Von besonderer Wichtigkeit ist der industrielle Handarbeits-Unterricht, derselbe hat die Aufgabe, die Zöglinge mit technischen Fertigkeiten auszurüsten, um sie durch eine nützliche Beschäftigung in vielen langen, einsamen Stunden vor der geisttödtenden Langeweile und dem entsittlichenden Müßiggange zu bewahren und ihnen als brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft eine Existenz zu sichern. Folgende Beschäftigungen dienen vielen Blinden zu ihrem späteren Fortkommen: Seilerei, Korbmacherei, Flechten von Tuchleisten, Stroh, Schilf, Binsen, gespaltenem Rohr und Draht, Fischnetzstrickerei, Rohrstuhlbeziehen, Bürstenbinderei, Cigarrenwickeln, Pianofortestimmen und Aufziehen von Claviersaiten; für weibliche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_351.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)