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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


gut, und er verkürzte ihr die langen Winterabende unter dem milden Lichte der großen, prächtigen Deckenlampe durch Vorlesen. Verkehr hatten sie wenig. Der Mutter hatte sich Emilie wieder genähert, aber ihre Vertraute war sie nicht, und gegen den Bruder hielt sie die gezogene Schranke aufrecht, während Zehren mit demselben in innigster Beziehung stand.

Ueber die trüben Krisen im Leben der Mutter, welche diese jetzt tiefer erschütterten als früher, zerbrach sich Karl Hornemann vergebens den Kopf. Jene räthselhaften Thränen, welche sie von Zeit zu Zeit an der Brust des Sohnes ausweinte, quälten ihn, dem der bestimmt ausgesprochene Wunsch der alten Frau jedes eigenmächtige Spüren nach ihrem Geheimniß versagte. Er hätte auch kaum einen Anhalt gefunden, da bezüglich der Geldangelegenheit kein Wort über Zehren’s oder der Mutter Lippen kam. Das erzwungene Eindämmen seiner begeisterten Liebe zur Schwester vermehrte die quälende Unruhe seines Innern. Dazu kam die Unterbindung seiner gemeinnützigen Bestrebungen. Sein Schooßkind, die Arzenei, welche er erfunden, war ein todtes Recept. Und die Politik erst!

Seine demokratischen Ideale, die so maßvoll waren, standen in dem Tempel, in welchem er betete. Und nun zerfiel Alles, was er zu ihrer Verwirklichung gebaut, unvollendet in Ruinen. Keine Gewaltthat war geschehen; der Herr Geheimrath war ein kluger Mann: er wohnte im Wiedenhofe, kannte die Häupter der demokratischen Partei und ließ sie bewachen – das war Alles. Der Club existirte nur noch dem Namen nach, und als ein paar Verwarnungen erfolgt waren, zogen selbst die meisten Mitglieder des kleinen Raths es vor, die Hände in den Schooß zu legen und zu – warten.

Windstille vor dem Sturm! Und der Sturm kam.

Man schrieb den zweiundzwanzigsten Februar; die schwarzen, drohenden Wolken mit den weißen Säumen hingen über Paris, und die Windsbraut heulte durch die Straßen und über die Boulevards. Ein paar Tage später wußte man in der rheinischen Fabrikstadt, daß ein mächtiger Volkswille in Europa sich für souverain erklärt und einen Thron zertrümmert hatte, den stolzen Thron von Frankreich.

Die Wirkung war eine bedrohliche. Industrie und Gewerbe stockten plötzlich; die Wirthshäuser füllten sich, und die Köpfe erhitzten sich. An den Wänden der Häuser beschien der grauende Tag da und dort Inschriften, mit Kohle oder Kreide geschrieben: „Es lebe das Volk, die Republik, die Constitution!“ oder: „Nieder mit den Reichen! Es lebe der Arbeiter!“ Die Polizei wurde selbst thätlich insultirt. Eines Nachts kam Donner nach Hause, ohne Gewehr und Mütze, die Uniform zerrissen, schäumend vor Wuth; man hatte ihn überfallen und ihm seine Unpopularität sehr nachdrücklich klar gemacht.

Die Clubs traten wieder in volle Thätigkeit. Die Union hielt täglich Versammlungen, aber auch Karl Hornemann und die übrigen Häupter seiner Partei wagten unter dem Schutze der allgemeinen Aufregung ihre Truppen wieder zu organisiren. An Stelle des Wiedenhofes mußte freilich ein anderes Local zum Orte der Zusammenkünfte gesucht werden, und man wählte den „Rothen Engel“ am Flusse drunten. Aber es gab Orte, wo noch ganz andere Elemente zusammenkamen und ganz andere Reden gehalten wurden, unheimliche, bluttriefende, verbrecherische Reden, die man früher nicht vernommen hatte und welche in einer dunstigen Atmosphäre von Branntweinduft und brenzlichem Oelgeruch verhallten. Die Sprecher waren hier: ein stadtbekannter Schneider, welcher beständig ein Paar alter gelber Nanking-Beinkleider und einen zugeknöpften Frack trug, den er einst einem Kunden verschnitten hatte, ferner ein verkommener ehemaliger Student und – der gewesene Fabrikleiter Bandmüller.

Die Haifische regten sich.

Am nämlichen Tage, an welchem die Nachricht vom Wiener Studentensturm und dem Sturze Metternich's eintraf und sofort tausendfach gedruckt durch die Häuser getragen, an die Straßenecken geklebt, verschlungen und bejauchzt wurde, saß der Geheimrath Rehling, die Stirn so glatt wie immer, aber das Gesicht blasser als sonst, in seinem Arbeitscabinet auf dem Rathhause, und vor ihm stand der Polizeicommissar Donner.

„Sie haben also wirklich die Ueberzeugung, daß jener Fabrikant Zehren, von welchem die Welt glaubt, daß er taub sei, derjenige Mann ist, in dessen Händen hier die Fäden der demokratischen Verschwörung zusammenlaufen?“

„Ja wohl, Herr Geheimrath. Wie ich Ihnen sage, er ist der Schwager des berüchtigten Hornemann, ist in Amerika gewesen und durch häufige Reisen verdächtig. Er war schon einmal festgenommen und – was die Hauptsache ist – jene chiffrirten Briefe haben wirklich existirt, obgleich heute kein Mensch mehr in der Registratur wissen will, wohin sie gekommen sind. Freilich bin ich heute nicht mehr so sicher wie früher, daß er sich blos taub stellt.“

„Der Doctor Urban, sagen Sie, war es, der Ihnen über diesen Herrn Zehren die ersten Mittheilungen machte?“

„Derselbe, Herr Geheimrath.“

Der Angeredete drehte sich auf dem Stuhle herum, schrieb eine Karte und couvertirte sie.

„Besorgen Sie das an den Fabrikanten und zwar persönlich! Im Uebrigen schaffen Sie mir sofort einen Wagen!“ –

Zehn Minuten später hielt eine Droschke vor dem Hause des Commerzienrath Seyboldt; der Kutscher riß den Schlag auf und schellte. Der Geheimrath stieg aus, und bald darauf stand er oben vor Toni Urban und küßte ihr artig die Hand.

„Wie wohl Sie aussehen, gnädige Frau! Ich erkenne immer deutlicher, daß man auf der Welt nichts Besseres thun kann, als reisen. – Treffe ich Ihren Herrn Gemahl zu Hause? Ich möchte ihn auf ein paar Minuten allein sprechen.“

„Um Gottes willen, Sie bringen doch nichts Schlimmes für ihn in’s Haus, Herr Geheimrath?“ sagte sie und erblaßte ein wenig.

Der Beamte lächelte. „Sehe ich wie ein Unglücksbote aus?“

„Mein Mann ist ohnehin so reizbar und aufgeregt seit Kurzem. Aber ich will Ihnen vertrauen, und Sie sollen eine ganze Viertelstunde mit ihm allein sein dürfen.“ –

Urban empfing den Besuch mit einiger Ueberraschung.

„Aber nun zur Sache!“ sagte der Geheimrath nach kurzer Begrüßung. „Ich ehre die Beweggründe, auf Grund deren Sie sich weigern, Ihre ehemaligen Parteigenossen zu compromittieren, bester Herr Doctor, aber wie die Dinge gegenwärtig liegen, müssen Sie es mir zu Gute halten, wenn ich Sie nichtsdestoweniger um einige Aufschlüsse bitte. Ich werde mich auf das Allernothwendigste beschränken.“

Die Worte klangen vertraulich, fast herzlich. Und dennoch legte sich ein Schatten über die Augen des Arztes, und er antwortete kühl und mit Achselzucken: „Ich bedaure, daß die Gründe, welche mich leiten, keine Ausnahme gestatten.“

„Das kann Ihr letztes Wort nicht sein,“ meinte der Geheimrath. „Ich beabsichtige zunächst durchaus nicht, den Demagogenfresser zu spielen. Es liegt mir im Gegentheil daran, mit der maßgebendsten Persönlichkeit jenes Kreises ein vernünftiges Wort zu reden, um drohendem Unglück vorzubeugen. Zu diesem Zwecke muß ich sie freilich kennen. Ich möchte mich nicht vergreifen. Ich habe zunächst Herrn Zehren in’s Auge gefaßt; was meinen Sie dazu? Sie haben ja den Bann der Discretion bezüglich dieses Herrn schon einem meiner Commissare gegenüber gebrochen, und ich darf vielleicht auf das nämliche Entgegenkommen Ihrerseits rechnen.“

Urban beachtete nicht, wie scharf beobachtend die grauen Augen des Beamten auf ihm ruhten. „Ich habe gegen diese Wahl durchaus nichts einzuwenden,“ sagte er unbefangener und leichtherziger, als vielleicht klug war.

„Hm! Vielleicht giebt es noch eine andere Persönlichkeit, welche Sie mir empfehlen könnten; nur noch eine. Man muß immer auf Reserve halten. Was meinen Sie zum Exempel zu Herrn Hornemann? Herr vom Rath ist leider verreist.“

Der Arzt machte eine Bewegung der Ungeduld.

„Ich verstehe schon,“ meinte der Geheimrath rasch. „Ich will Sie nicht quälen und danke Ihnen für Ihre Gefälligkeit.“ –

Urban stieß ärgerlich einen Stuhl bei Seite, als er den Besuch hinausgeleitet hatte. „Ich hätte dem sehr ehrenwerthen Herrn Zehren endlich Ruhe verschaffen sollen. Welchen Nutzen hätte ich jetzt noch davon, ihn zu quälen?“

Eine Thür öffnete sich, und Toni steckte erst den Kopf herein, ehe sie eintrat.

„Ist der Geheimrath fort, Heinrich? Wahrhaftig, und ohne Abschied. Du siehst so verstimmt aus.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_344.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)