Seite:Die Gartenlaube (1877) 326.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Er schwieg einen Moment. „Gern möchte ich es, zuweilen auch glaube ich – und doch –“

Der Mond war auf seinem stillen Gange höher gestiegen und wob sein silbernes Gespinnst um Büsche und Bäume. Hermann's Blick hing träumerisch an dem weißen Licht; sein Auge wurde dunkel; er athmete tief. Plötzlich erhob er sich und endete seinen Satz: „Doch fürchte ich, daß ich es nicht kann.“

Die Mutter seufzte: „So ist das Herz Dir immer noch nicht frei? Du weißt, Liebster, wie ich Dich geschont habe, fühlte ich doch, wie Dir die leiseste Berührung neue Schmerzen schuf. Endlich glaubte ich das überwunden, glaubte neues, erreichbares Glück für Dich aufgesproßt und sehe – daß ich mich getäuscht. Drängt sich Vergangenes wirklich noch heute zwischen Gegenwart und Zukunft, dann dünkt es mich an der Zeit diese Geister zu bannen. Ich habe Dich nie mit ausdrücklichem Worte befragt, so schwer ich auch daran trug, Dein tiefstes Fühlen und Kümmern nicht theilen zu dürfen – heute frage ich Dich: Was ist vorgegangen zwischen Dir und dem Mädchen, das Dir nun seit Jahren und Jahren im Sinne liegt? Was war zwischen Euch, daß Du sie weder vergessen noch gewinnen kannst? Erinnerungen mögen das Ende des Lebens füllen, seinen Anfang dürfen sie nicht beherrschen. Du mußt Dich entschließen. Ist es unmöglich zu besitzen, was Dein Herz begehrt, dann wahre Dir eine allzuliebe Gestalt an jenem Ort, wo überwundene Schmerzen, wo unsere Todten ruhen – solche Begräbnißstätte birgt wohl jeder Lebende in sich. Es ist schön sie heilig zu halten, unrecht jedoch das eigene frische Leben mit zu begraben. Ist aber Deiner Sehnsucht Ziel erreichbar, dann wirb um Dein Glück! Haus und Herz stehen ihm offen, wenn es auch andere Züge trägt als die, welche mir und auch Dir eben noch so lieblich erschienen.“

Hermann sah stumm vor sich nieder. „Dränge mich nicht!“ sagte er beklommen. „Vielleicht kommt die Zeit, wo ich Deine Wünsche zu erfüllen vermag – vielleicht ist dort wirklich das Glück. Jetzt – ja, warum sollte ich es Dir verschweigen, jetzt drängt sich noch immer das unvergeßliche Bild zwischen mich und alles Neue, so gut und lieb es sein mag. Hoffnung aber habe ich dort nicht, wie hier – übrigens ist Paula Hollbach auch nicht in der Lage über sich zu verfügen. Ihre Mutter –“

„In diesem Sinne ist sie frei geworden,“ unterbrach ihn Frau Barner lebhaft. „Durch einen Brief Anna Kettler's erfuhr ich, daß Frau Hollbach kürzlich gestorben.“

Hermann fuhr jählings auf. „Du hast Nachricht von Kettlers – endlich – und sagtest mir nichts davon?“

„Der Brief kam heute, als eben die ersten Gäste anfuhren; ich habe ihn nur erst flüchtig überblickt und denke ihn jetzt in Ruhe zu lesen.“

„Der Inhalt des Schreibens ist mir von großem Werthe,“ sagte Hermann sehr bewegt. „Wir hörten lange, lange Nichts von – Allen.“

Er fachte hastig das Licht an; Frau Barner, durch seinen Ton überrascht, fixirte ihn einen Augenblick, nahm dann den Brief aus der Tasche ihres Kleides, entfaltete zwei, drei Bogen und begann zu lesen, während ihr Sohn in lebhafter Erregung auf und nieder schritt. Seine Gedanken irrten zurück in vergangene, stürmische Tage. Es erschien ihm wie ein Wunder, daß jetzt, wo er es nicht mehr erwartete, all seinen stummen Fragen Antwort werden sollte. Ihm däuchte, als schlössen diese Blätter, deren Inhalt er noch nicht kannte, seine Zukunft in ihren Rahmen. – Zukunft? Gab es in der That noch etwas wie Zukunft, das sich an dieses Vergangene knüpfen konnte? Sein Herz schlug ungestüm.

„Lies selbst!“ sagte die Mutter, als er sich ihr näherte, nachdem sie die Bogen zusammengefaltet. Er setzte sich, stützte den Kopf in die Hand und beschattete so seine Augen, während er Seite nach Seite überflog:

„Meine theure Freundin! Als ich heute einen einsamen Abend vor mir sah und in alten Papieren kramte, kamen mir Deine letzten, herzenswarmen Zeilen zur Hand und versetzten mich lebhaft in alte Zeiten. Es drängt mich, endlich wieder zu Dir zu sprechen, von Dir zu hören – weiß ich doch, daß keine Pause, so stumm und lang sie sei, uns auch nur um eines Haares Breite von einander entfernen kann. Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit ich Deinen Brief empfing, und er blieb unbeantwortet, so treu ich Deiner auch gedachte. Dir gegenüber habe ich ja nicht nöthig mein Herz zu vertheidigen. Vieles, unendlich Vieles liegt aber zwischen damals und heute.

„Vielleicht erfuhrst Du, welche neue Wendung unser Leben seit Ida's Verheirathung genommen, und durftest um so mehr erwarten, hierüber Nachricht von mir zu erhalten. Lasse mich nachholen, was in vielfach fordernden Tagen unbesprochen geblieben, was ich Dir auch heute nur in flüchtigen Zügen mittheilen kann! Ja, wäre noch die gute Zeit, wo wir als junge Frauen Haus an Haus wohnten, uns täglich sahen und über Alles, was uns an Freud' und Leid geschah, die Herzen gegen einander entlasteten! Könnte ich wie damals auf dem Schemel zu Deinen Füßen sitzen und Dir, der Weiseren, Erfahreneren, alles Fühlen und Denken beichten – das würde mir oft unendlich wohl gethan haben. Damals verstandest Du mir in den Augen zu lesen – so lies heute zwischen den Zeilen!

Dein Brief, bald nach der Heimkehr Deines Hermann geschrieben, traf mich in großer Sorge. Kettler war in jenen Tagen schwer erkrankt. Ein nervöses Fieber kam plötzlich zum Ausbruche, nachdem es schon lange zuvor in ihm gewühlt haben mochte; es steigerte sich zum Typhus. Laß Dir bekennen, daß sein Erkranken, trotz aller Todesangst, mir in gewisser Hinsicht eine Erleichterung brachte, denn es erklärte die namenlose Veränderung, welche während der letzten Monate zuvor mit meinem Manne vorgegangen war. Er, der allezeit jede Lage und Stimmung beherrscht hatte, war mit einem Male rastlos, erregt, ja launenhaft geworden – dann wieder von einer Weichheit gegen mich und Ida, von einer Schwermuth befangen, die mich noch tiefer ängstigte, als alle Reizbarkeit. Sein schönes Gleichgewicht war dahin. Noch heute durchschauert mich ein unheimliches Gefühl, wenn ich an jenen Sommer denke, wo es Tag und Nacht wie Gewitterschwüle über uns hing. Das Namenlose drückt am schwersten – ich machte mir viel bange Gedanken; die Sorge, daß unser Vermögen bedroht sei, erschien unter all den unbestimmten Befürchtungen noch als die geringste. Kettler wollte mir nicht Rede stehen über den Grund seiner unverkennbaren Beängstigung. Mit einem Worte – als die plötzlich ausbrechende Krankheit mich überzeugte, daß seine Verstörung zweifellos körperliche Ursachen gehabt, lüftete sich die Last trotz aller Sorge.

Monate schlichen zwischen Furcht und Hoffnung langsam hin; eine Erschöpfung, eine Apathie, welche den Arzt fast mehr beunruhigte, als das überwundene acute Leiden, hielt Kettler in langem, schwerem Banne. Auf sein Verlangen wurde Ida's bereits aufgeschobene Verbindung in aller Stille vollzogen; der Beruf unseres Schwiegersohnes führte ihn nach Norddeutschland, und er wollte nicht ohne seine junge Frau gehen. So feierte unsere Einzige einen gar stillen Hochzeitstag, um dann in weite Ferne zu ziehen. Es wurde öde im Hause, doppelt öde, denn auch Ida's Freundin, Paula Hollbach, von der Du weißt, ward durch Pflichten im eigenen Hause dem unsrigen mehr und mehr entfremdet. Das waren sonnenlose Tage, liebe Freundin. Oft überkam mich ein Gefühl trostloser Verlassenheit, und nur die Liebe hielt mich aufrecht.

Da begann Kettler eines Tages, als ich es am wenigsten erwartete, von Zukunftsplänen zu sprechen und über die Zwecklosigkeit seines bisherigen Lebens zu klagen. Er schlug mir endlich vor, wir wollten fort, wollten nach meiner Heimath ziehen. Das Wort labte mich, wie sonnige Tageshelle nach bange durchwachten Nächten. Seit Jahren schon war es mein stiller Wunsch gewesen, wieder nordwärts ziehen zu dürfen, und nun erst, seit die Kinder dort lebten! Ich verhehlte meine Freude nicht – sie mochte auf meinen Mann zurückgewirkt haben, denn von dieser Stunde an ging es bei ihm vorwärts mit Kräften und Stimmung.

So lieb mir unser kleiner Besitz geworden, sah ich ihn doch zufrieden in fremde Hände übergehen. Zu schwer hatte dieses letzte Jahr auf uns gelastet, zu vereinsamt waren Haus und Garten, seit Jugend und Freude von dannen gezogen. Nun zogen wir nach. Zuerst freilich südwärts, nach Bozen, wo wir die letzten Monate des Winters verlebten, wie das Kettler's Arzt gewünscht, dann, im Frühjahre, der alten Heimath zu. Wie schön war es, bei den Kindern, die in Stralsund leben, zu Gaste zu sein! Dort ließ mich Kettler zurück, um sich längs der Küste nach einem unsern Mitteln entsprechenden Gütchen umzusehen. Ungern sah ich ihn von uns gehen; noch immer lag eine Schwere

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_326.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)