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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


muß Sie fragen – ich muß erfahren – was ist vorgegangen zwischen Ihnen und – und dem Herrn Oberst?“

Er fuhr zusammen. Was wußte sie? Oder ahnte sie nur? Das Wort traf ihn so unvorbereitet; er war so ganz in Unkenntniß über ihr Fühlen und Denken.

„Vorgegangen? Nichts!“ sagte er unsicher.

Paula hob die Wimpern und sah ihn mit tiefem Ernst an. Kein Blutstropfen färbte ihr zartes Gesicht, Hermann dagegen erröthete heftig, als sie nun weiter sprach:

„Ich weiß, daß er bei Ihnen war nach jenem Abend. Das wäre nicht möglich gewesen, ohne –“

Die zurückgedrängte Angst erstickte ihr das Wort auf den Lippen und brach nun unaufhaltsam aus ihren Augen, bebte um den scheuen Mund. Sie neigte sich gegen Hermann vor, als wollte sie ihm leise, ganz leise etwas zuflüstern; schwach wie ein Hauch, aber in erschütterndem Flehen klang ihr Wort:

„Sagen Sie, o sagen Sie mir, was geschehen ist – oder geschehen wird! Es steht – nicht gut zwischen Ihnen Beiden?“

Hermann bewegte den Kopf zu ernstem Verneinen: „Beruhigen Sie sich, Fräulein Hollbach! Ich darf Ihnen mein Wort geben, daß der Herr Oberst und ich in vollem Einverständniß von einander geschieden sind und uns kaum jemals wieder begegnen werden.“

Das junge Mädchen blickte stumm auf ihre fest in einander geschlossenen Hände nieder. Der angstvolle Zug, welcher sich herb um ihre Lippen grub, wich der beschwichtigenden Rede nicht.

„Können Sie mir auch Ihr Wort geben, daß sein Leben durch nichts bedroht wird?“ sagte sie plötzlich. „Sie schweigen?“

„Leben und Tod des Menschen stehen in höherer Hand – wer dürfte sein Wort für ein fremdes Leben verpfänden!“ erwiderte er beinahe schroff.

„Sie schätzen mich nicht mehr.“ Die stolze Geberde, mit der sie das Haupt erhob, widersprach dem Worte, aber das Bangen war stärker als das Selbstgefühl; Thränen stürzten ihr aus den Augen: „O, sprechen Sie nicht so grausam! Sagen Sie mir die Wahrheit – vielleicht ließe sich retten –“

„Fragen Sie ihn selbst,“ erwiderte Hermann, „sagen Sie ihm dabei, daß mein Verzicht bestehen bleibt! Was er auch sinnen mag, Ihnen giebt er wohl Gehör. Ihr Einfluß –“

Das letzte Wort kam mühsam und klang bitter. Ein so heiß schmerzlicher Blick gab ihm Geleit, daß ihre Gedanken zu ihm hinübergezwungen wurden.

„Mein Einfluß?“ wiederholte sie betroffen, und der leise Zug von Scheu vertiefte sich. „Ich kann Ihnen das – ich kann nichts erklären. Sie sahen und hörten – denken Sie von mir, was Sie müssen!“

Sie hatte ihre ganze Fassung wiedergewonnen und blickte mit klaren Augen zu ihm auf: „Ich darf Sie nicht länger zurückhalten. Leben Sie wohl!“

Seine Fassung aber war verloren. Also wirklich! Sie wußte Alles, hatte ihn erkannt an dem Unglücksabende. Nichts war gerettet, nicht einmal der Trost, wenigstens ihr Bewußtsein freigehalten zu wissen. Aber trotz alledem überkam ihn ein Gefühl der Erleichterung. Trostbringend, siegreich erstand in ihm der Glaube an das geliebte Mädchen. Was auch unbegreiflich bleiben, was auch dahin sein mochte, der reine Blick dieser Augen trog nicht, ihr Bild stand hoch und klar an seiner alten Stelle. Alles Ungesagte und Ungefragte, was ihn noch bedrängte, klang aus dem Tone, womit er ihren Namen rief: „Paula!“

Ohne ein Wort hinzuzufügen, ergriff er ihre Hand und beugte sich darüber; seine Lippen berührten sie mit tiefer Ehrerbietung. Ein schwacher Druck der zarten, kalten Finger antwortete. Dann ging er.




Paula hatte ihm kein Geleit gegeben. Die pulsirende Schläfe gegen die kühle Scheibe gepreßt, stand sie an der Gartenthür und blickte hinaus auf die vom Abendlichte übergossenen Beete. Große Thränen fielen zögernd, vereinzelt durch die Wimpern auf das blasse, liebe Gesicht. Da hörte sie ihren Namen rufen; schwach wie ein Hauch nur drang er aus dem anstoßenden Zimmer herüber, aber es genügte, um sie aus ihrer Versunkenheit zum vollen Wachsein aufzurütteln. Wenn Beherrschung sich je erlernen läßt, so ist es am lange behüteten Krankenlager. Die vielgeübte Kraft versagte dem jungen Mädchen auch jetzt nicht; sie trocknete sich hastig die Augen und trat mit der gewohnten ruhigen Haltung bei der Mutter ein. Indem sie ihr das Kissen bequemer rückte, sagte sie zärtlich: „Du riefst, Mütterchen; wünschest Du etwas?“

„Nur Dich!“ sagte Frau Hollbach und sah ihr forschend in die Augen. „Weshalb bist Du nicht mit dem Gaste hereingekommen? Er hat sich bei mir sehr rasch verabschiedet, und Du – Paula, Du hast geweint.“

„Nicht doch!“

Die Mutter bestand nicht auf ihrer Behauptung, doch faßte sie des Mädchens Hände und zog sie neben sich nieder. „Er schien mir sehr bewegt. Ihr habt Abschied genommen – ist er Dir lieb?“

Paula legte ihren Kopf dicht neben den der Mutter auf das Kissen. „Wir haben Abschied genommen, und er ist mir lieb – aber nicht so, wie Du vielleicht denkst.“

„Kind, liebes Kind, ich fürchte, Du hast um meinetwillen aufgegeben, was Dein Glück wäre. Meinst Du, ich fühlte nicht, daß Dich etwas quält, besonders seit den letzten Tagen? Wenn Du auch schweigst! Als er eben ging, sah ich, daß er litt – warum hast Du ihn so gehen lassen? Ich weiß, daß Du mich nicht verlässest, ich weiß aber auch, daß meine Tage, schlimmsten Falles meine Jahre gezählt sind. Ihr habt noch viel Leben vor Euch; weshalb also in Schmerzen scheiden? Nur Gutes und Liebes habe ich von ihm gehört; er hat gar treue Augen – ich wüßte Deine Zukunft geborgen und könnte ruhiger schlafen.“

Paula richtete sich auf und sah ihre Mutter mit einem stillen Blicke an. „Es ist nicht, wie Du meinst. Vielleicht daß ich ihm lieb bin – oder war. Aufzugeben habe ich nicht, was mir nicht dargeboten wurde. Sei also ruhig! Auch weißt Du, ich gehöre zu Dir. Was mich eben ein wenig bewegt hat, geht vorüber.“

Sie strich ihrer lieben Kranken sanft über die müden Augen und waltete leise im Zimmer umher. Als ihr schien, daß die Mutter eingeschlummert sei, was der Schwachen nach jeder ungewöhnlichen Unterbrechung ihres einsamen Lebens leicht geschah, setzte sie sich an das Fenster, dessen Epheugeranke das einfallende Licht hinderte, das Lager zu streifen. Paula’s sonst allezeit fleißige Händchen lagen gefaltet in ihrem Schooße; es wurde dunkel im Zimmer, nur die Gaslaterne vor dem Hause warf durch das zweite Fenster einen hellen, mondlichtgleichen Streifen herein. In der tiefen Stille waren sogar die schwachen, unregelmäßigen Athemzüge der Kranken zu vernehmen. So lautlos war es rings, daß das Rädergeroll von der Straße her das junge Mädchen aufschreckte und sie einen unwillkürlichen Blick durch die Scheiben werfen ließ. Sie schrak zusammen. Das offene Jagdwägelchen, welches da vorbei fuhr, war ihr bekannt, gleich dessen Insassen. Die unwillkürliche Bewegung, womit Paula sich in ihren Sessel zurücklehnte, als wollte sie sich bergen, war überflüssig; der Kopf des Vorüberfahrenden blieb dem rebenumflochtenen Häuschen abgewendet.

Das leichte Geräusch hatte den Schlummer der Mutter unterbrochen. „Bist Du da, Paula?“ fragte sie leise; „und so im Dunkeln – doch nicht mir zu Liebe? Es wird ohnedies Zeit, daß ich mein Schlafzimmer aufsuche. Und sobald ich gebettet bin, gehst Du noch für ein Stündchen zu Kettler’s, Kind; ich wünsche Das. Es wird Dir wohl thun, und mich beruhigt es. Du weißt, es ist mir unlieb, wenn Du Dich tagelang so einspinnst.“

Paula hatte sie unterbrechen, ihr sagen wollen, daß Frau Kettler und Ida im Theater seien, doch sie schwieg; als ihr die Worte schon auf den Lippen schwebten, erfaßte sie plötzlich ein Gedanke. Sie fühlte selbst, wie blaß sie wurde, und blieb einen Moment unbeweglich vor der Lampe stehen, die sie im Begriff war anzuzünden – an diesen Gedanken mußte sie sich im Dunkel gewöhnen. Als das Licht ihre Züge beschien, waren sie voll Entschlossenheit.

Sie rief die Dienerin, bettete ihre Mutter um, gab der Gehülfin noch einige Weisungen und kam dann mit Hut und Tuch, sich zu verabschieden.

„Ich gehe, werde aber nicht lange bleiben. Vielleicht treffe ich Dich noch wach. Schläfst Du ein, dann schließe mich zuvor in Dein Gebet!“

„Um was hätte ich sonst zu beten? Gott sei mit Dir!“

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